Kaninchenfutter statt roter Rosen
Großartiger Leseabend mit dem Journalisten und Autor Jürgen Wiebicke im Mechernicher Rathaus – Berichte mit dem ungeschönten Blick einer Sterbenden auf das Leben – Benefizveranstaltung für das Hospiz Stella Maris der Communio in Christo
Mechernich – Wie das Leben so spielt, und das Sterben vor sich geht, darüber erfuhren knapp hundert Besucher einer Benefizlesung mit dem Kölner Autor und Journalisten Jürgen Wiebicke eine ganze Menge, die Freitagabend ins Mechernicher Rathaus gekommen waren.
Der Moderator des „Philosophischen Radios“ montags abends auf WDR 5 hatte vor Jahresfrist der Einrichtungsleiterin Sonja Plönnes und Hospizleiterin Verena Izzo vom Sozialwerk der Communio in Christo bei einer Lit.Eifel-Veranstaltung in die Hand versprochen, er werde zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung fürs Hospiz Stella Maris der Communio wieder nach Mechernich kommen.
Es war nicht das erste Mal, denn bereits vor Jahren hatte Jürgen Wiebicke die Communio und ihre Pflegeinrichtungen besucht und war beim Gründungsgedenktag des Ordo als Referent und Moderator zum Thema Tod und Sterben aufgetreten. Auch diesmal sei es ihm umso leichter gefallen, nach Mechernich zu kommen, da er der Hospizidee und dem Hospiz sehr eng verbunden sei, erklärte der Autor im gutgefüllten Ratssaal.
Dann eröffnete er den gemischten Vorlese- und Gesprächsabend mit einer Passage vom Ende, dem allmählichen Dahinscheiden und Tod seiner Mutter im Hospiz. Es ging dabei – und im Buch „Sieben Heringe“ generell – nicht um voyeuristische Inaugenscheinnahme. Hier findet eine Würdigung von Menschen der Kriegsgeneration und ihrer von der Nazidiktatur geprägten Biographien statt.
Ohne Grimm und Vertuschung
Bei Jürgen Wiebickes Mutter, die neben seinem Vater Hauptdarstellerin des bei der Benefizlesung im Mittelpunkt stehenden Buches „Sieben Heringe“ ist, geht es um die aktive und deshalb schmerzliche, aber auch befreiende Bilanzierung des eigenen Lebens.
Das sich bei der Betrachtung ohne Grimm, aber auch ohne grobe Vertuschung als reich entpuppt. Nicht, weil es komplikationslos verlaufen und alles gelungen wäre, sondern, ganz im Gegenteil, weil es so voller Schwierigkeiten steckte und voller Leben war.
Herrlich etwa die Schilderung der ersten Begegnung zwischen Mutter und Vater Wiebicke auf einer Wiese, auf der er die Schafe hütete und sie nach Kaninchenfutter für die „Stallhasen“ daheim suchte. Er half ihr Kettensträucher und Wegerich zu suchen: „Lass es uns gemeinsam tun“, ein Schlüsselsatz fürs ganze Leben… Doch zum Treffen am nächsten Nachmittag hatte er bereits einen ganzen Sack voll Karnikelfutter für sie gerupft. Jürgen Wiebicke: „Das war sein Strauß roter Rosen für sie, ein Sack voll Kaninchenfutter…
Doch die romantischen Szenen können in dieser Ehe – wie in den meisten anderen – nicht überwogen haben, sondern werden wohl eher die seltene Ausnahme gewesen sein, vermutet der Sohn und Autor: „Aber ich bin froh, dass es sie gab, und ihre Ehe keine reine Versorgergemeinschaft war…“
Trauma der Kriegsgeneration
Das Leben seiner Mutter war aber nicht nur voll Leben, sondern, wie sie dem Sohn im Angesicht des eigenen Todes offenbart, auch voller Tod. Kein Wunder nach zwei in der Familie („natürlich“) nicht thematisierter Abtreibungen. Oder der unverarbeitete Anblick auf Kindergröße geschrumpfter Brandbombenopfer im Zweiten Weltkrieg, der der Mutter noch auf dem Sterbelager Albträume bescherte.
Jürgen Wiebicke hatte auch Trost für die Hinterbleibenden mit nach Mechernich gebracht: „Wundern Sie sich nicht, wenn Sie sich nachher ein bisschen verrückt vorkommen… Aber Trauernde können sich nicht aussuchen, woran sie denken wollen, wenn sie doch ständig wie vom Blitz getroffen werden…“
Das Reden (und wohl auch das Schreiben, wie in seinem Fall) helfen auf jeden Fall bei der Bewältigung, so Jürgen Wiebicke: Sie verhindern, dass „Geschichten für immer mit in die Grube fahren, die dieses Leben geschrieben hat“. Seine Mutter habe sich selbst „freigesprochen“, indem sie ihm erzählte, was wirklich los war, und er sollte es nicht für sich behalten, sie war auch einverstanden, dass der Autor es seinen Lesern und Zuhörern weitergibt.
Das seien keine „Abenteuergeschichten“ mehr gewesen nach der Art, wie sie Erwachsene aus ihrem reichhaltigen Erleben den Kindern vorzutragen pflegen, so Jürgen Wiebicke: „Wenn man alles zur Sprache bringt, auch das Schwere, dann kann das die Wirklichkeit verändern. Das Schwere geht nicht weg, wenn man es verschweigt…“
Ohne Zorn und ohne Vorwurf brachte der studierte Germanist und Philosoph, Jahrgang 1962, auch die Bewältigung oder Verdrängung der Nazivergangenheit einer ganzen Generation zur Sprache. Und er brachte Beispiele für einen „inneren Faschismus“, der nicht nur die Kinder des Krieges befallen hatte, sondern auch die Generation nach ihnen, die oft keine Sprache für Emotionen finde und wie gepanzert durchs Leben gehe.
Es war ein großartiger Lese- und Erzählabend in angenehmer Atmosphäre, der sich nicht nur auf literarischem und philosophischem Boden bewegte, sondern die Menschen im Auditorium zu versöhnen suchte mit dem Leben und dem Menschsein.
Sehr viele Zuhörer erwarben „Sieben Heringe“ am Büchertisch der Buchhandlung Schwinning und ließen sich ihr Exemplar von Jürgen Wiebicke signieren. Der Erlös der Benefizlesung kommt dem Hospiz Stella Maris des Ordo Communionis in Christo zugute. Die Unkosten übernahmen „Schäfer Reisen“ und die Lang & Roggendorf Medien GmbH („ProfiPress“).
pp/Agentur ProfiPress