Von der Spaltung des Landes
Prof. Dr. Thomas de Maizière gab Einblick in die Zeit nach dem Mauerfall – Der frühere Bundesminister a.D. sieht „Fragmentierung“ der Gesellschaft und den immer stärker ausgeprägten Egoismus als eigentliche Ursache für Probleme der heutigen Zeit
Mechernich – Thomas de Maizière zog den Gästen gleich einen Zahn: „Ich muss Sie leider enttäuschen.“ Nein, er wolle an diesem Lit.Eifel-Abend im Gymnasium Am Turmhof (GAT) nicht nur an den Mauerfall vor 30 Jahren erinnern. Lieber führte der Jurist und Bundesminister a.D. in seinem beeindruckenden Vortrag zu wichtigen Themen der heutigen Zeit, in die Spaltung, Einigkeit und Freiheit des deutschen Volkes.
Thomas de Maizière war Zeitzeuge des Mauerfalls, er hat als Mitglied der Verhandlungsdelegation den Einigungsvertrag zwischen West und Ostdeutschland mitverhandelt. Natürlich sollte man an den Mauerfall erinnern, sagte er: „Was aber bei allem Erinnern, Gedenken, Mahnen und Hinterfragen ein bisschen auf der Strecke bleibt, ist die Frage nach der Gegenwart und Zukunft.“ Zu häufig verharre man in der Kritik, dass die deutsche Teilung in den Köpfen immer noch nicht überwunden ist.
Der gebürtige Bonner spricht statt von Einheit und stupider Gleichmacherei lieber von Einigkeit. Die Vielfalt Deutschlands sei schließlich eine Stärke. Regionaltypische Unterschiede sind für ihn keine Alarmzeichen für ein gespaltenes Land, das man therapieren müsse. Jedes Bundesland besitze eine eigene und gewachsene Tradition. „Akzeptiert die Unterschiede aber macht daraus keine Rangordnung“, sagte er. Ja, Arbeitsplätze bei gleicher Qualifikation und gleicher Anforderung seien im Durchschnitt im Westen besser bezahlt als im Osten. Aber ein Gefälle gebe es schließlich auch zwischen Köln und der Eifel.
Radikale Abgrenzung
Sorgen bereiten ihm vielmehr die immer größer werdenden Unterschiede bei den Meinungen, bei den Interessen und Ansprüchen in unserem Land und er spricht von einer gefährlichen „Fragmentierung“ der Gesellschaft. Gruppen und Milieus der Gesellschaft grenzten sich radikal voneinander ab. „Sie handeln immer weniger im Interesse der Gemeinschaft, sondern zunehmend egoistisch in ihrem eigenen Interesse.“
Er machte deutlich: „Diese Fragmentierung unserer Gesellschaft, in immer mehr und kleinere Gruppen, die sich nur noch um sich selbst drehen, ist die eigentliche, tieferliegende Ursache für den mangelnden Respekt, für die Polarisierung, für die große Unzufriedenheit in unserem Land.“ Sie sei die eigentliche besorgniserregende Spaltung des deutschen Volkes, 30 Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung.
Die steigende Unzufriedenheit und Politikverdrossenheit registriere er. „Die Politik redet nur und tut nichts. Es werden keine Probleme mehr gelöst, es wird nicht mehr gestaltet, sondern nur noch gestritten und verwaltet“, sei eine Kritik, die man oft höre. Doch das Problem liege woanders, so de Maizière. Die Politik verliere die Steuerungs- und Problemlösungskompetenz deswegen, weil sie sich zu sehr auf die einzelnen Interessen und Erwartungen der Gesellschaft konzentriert.
Dank Internet gebe es viele Kanäle und Wege ganz direkt mitzuteilen, was nach Meinung des Volkes gerade zu tun und wichtig ist. Demokratietheoretisch vielleicht nicht schlecht, sagt der Jurist und nennt es „völlige Barrierefreiheit zwischen Regierenden und Regierten.“ Nur, wenn jeder sich jederzeit und überall ganz unkompliziert mit gefühlt wichtigen Themen an die Politik wenden könne, werde das zum Problem.
„Großer Chor wo jeder solo singt“
„Das ist dann wie ein großer Chor, wo jeder solo singt“, so de Maizière. Und jeder immer lauter. So funktioniere aber Gesellschaft nicht, gemeinsam sei man stark.
Warten, dass andere Handeln, sei keine Lösung, denn Demokratie lebe vom Mitmachen, so der prominente Gast: „Mitnehmen, das macht der Busfahrer.“ Regeln des Anstands dürften nicht außer Acht gelassen werden. Das Aufkommen der „AfD“ sieht er nicht als Folge der Teilung. Der Rechtsruck sei schon lange vorher auch in anderen europäischen Ländern feststellbar gewesen.
In einer Podiumsdiskussion mit Schülern blickte der ehemalige Minister des Innern am Ende aber doch nochmal zurück, auf die Zeit des Mauerfalls, die Enteignung, Entwicklungen und Entscheidungen danach. „Die große Freiheit war auch eine große Unübersichtlichkeit“ für die DDR-Bevölkerung, stellte er fest. Und moniert die nicht vorhandene Neugier der Westdeutschen auf die Ostdeutschen. Bis heute habe erst ein Bruchteil der Westdeutschen die neuen Bundesländer besucht.
„Auf jeden Fall war der Mauerfall ein Wunder, jedenfalls aber eine große historische Errungenschaft, und eine große Leistung all derer die damals dabei waren, dass die politische und geografische Öffnung der DDR, auch der Fall der Mauer, friedlich verlaufen ist.“ Er wäre jedenfalls ein klarer Befürworter den 3. Oktober als Nationalfeiertag auszuloben.
pp/Agentur ProfiPress