Von kostbaren Stunden
Jürgen Wiebicke macht das Leiden einer Kriegsgeneration nachvollziehbar und erzählt bei der Lit.Eifel von seiner Mutter und ihrer Verwandlung, der Wucht der NS-Zeit und dem Herausbrechen der Wahrheiten vor dem herannahenden Tod
Mechernich – Die bewusst gesetzte Stille hinter den Sätzen lässt die Inhalte sacken, tief und tiefer unter die Haut gehen. „Sieben-Heringe“-Autor und WDR-5-Moderator Jürgen Wiebicke gelingt es, mit seinen bedeutungsgefüllten Worten Emotionen und Botschaften pur zu transportieren, so dass man versteht, fühlt, sich öffnet und immer mehr, mit den fortschreitenden Minuten der Lit.Eifel-Lesung im Gymnasium Am Turmhof, ein bisschen auch die Welt und Kriegsgeneration, Oma, Opa, Eltern mit anderen Augen betrachtet.
„Viele haben nicht gesprochen“, machte Wiebicke das Schweigen einer Generation bewusst. Tatsächlich schwieg auch seine Mutter über Jahrzehnte darüber, was sie erlebt hat während der NS-Diktatur. In der Aula lässt er dann die Zuhörer hautnah mitfühlen, spricht vom Prozess ihrer Verwandlung, dem herannahenden Tod, der letzten Wegstrecke, vom Herausbrechen der Wahrheiten, einer sich entwickelnden, nie gekannten Sanftmut der sonst gestrengen Mutter. „Vielleicht ist es das, was mir die Stunden jetzt mit ihr so kostbar machen, sie zeigt sich nachgiebig und verletzlich und gewinnt dadurch an Wärme.“ Er erzählt von der „veränderten Tonlage“ weg von den Anekdoten, den Erzählroutinen, die er alle schon kannte: „Auf einmal war die ganze existenzielle Wucht dabei.“
Ungewollte, unbewusste „Muster“
Ihm sei klar geworden: „Je älter wir werden, dass es etwas mit unserem eigenen Leben zu tun hat.“ Er selber habe „Muster“ mitbekommen, ohne dass er sich das habe aussuchen können oder Eltern das unbedingt gewollt haben. „Wenn eine Diktatur aufhört zu existieren, das heißt ja nicht, dass sie aus dem Alltag verschwunden ist.“ Unbewusst habe vieles fortgelebt, was aus dieser dunklen Zeit stamme. Er betonte: „Das was da geschieht, ist nicht die Privatgeschichte Wiebecke, sondern exemplarisch für eine ganze Gesellschaft, die ähnliche Geschichten erlebt hat.“
Als Jugendlicher sei er mit der Illusion aufgewachsen, dass er mit dieser Zeit nichts zu tun habe, bekennt er und spricht sogar von „Selbstbetrug“. Der Sicherheitsabstand sei aber um vieles geringer als man wahrhaben wollte – nur 17 Jahre“ trennten ihn (seine Geburt) von Ausschwitz: „Heute denke ich, oh Gott, wie nah war das.“ Gewertet oder bewertet habe er die Erzählungen seiner Mutter nicht, ganz bewusst nicht. Damit der Erzählfluss nicht versiegt und ihr Erlebtes, der Knoten tief im Innern, sich lösen darf.
Schreien in der Nacht
„Es gibt noch vieles, was verstanden werden will“, sagte er. Zeit zum Zuzuhören, sei das Wichtigste, letztlich aber auch Interesse und Empathie des Zuhörers. Wiebicke: „Da muss jemand hören wollen. Aber in dieser Verfassung war das Land nicht mehr nachdem was passiert ist.“ Die Mutter sei ein unfreiwilliges Opfer des „in Blut getränkten 20. Jahrhunderts“, habe aus der Not heraus verdrängt, all die Probleme, die nicht zu lösen sind. Sie habe ihm vom Schreien in der Nacht erzählt, das nie aufgehört habe, nie versiegt war, vom nicht mehr Schlafenkönnen, vom „nackten Grauen“ und „verbrannten Leichen in Kindergröße“, die die Mutter als junge Frau anschauen musste.
Er bezeichnet es als Alpträume und schwere Traumata. „Ihre ganze Generation muss davon geplagt worden sein – und hat geschwiegen. Auch, weil es fast unmöglich scheint, für eine solche Erfahrungswucht eine passende Sprache zu finden“, sagte er. Doch damit verschwinde das Erlebte nicht, sondern bleibe, nur tief im Innern verschlossen.
Sie habe sich vorbereitet auf die Gespräche mit ihm. „Sie hatte sehr genaue Vorstellungen davon, was noch abgearbeitet werden muss, damit ich ihre Leben verstehe“, gesteht er. Seine Mutter hat sich letztlich sogar von allen Konventionen verabschiedet. „Sie hat mir von zwei Abtreibungen erzählt“, sagt er: „Sie hat das rückhaltlos getan, weil sie wusste, dass ich nicht werten werde.“ Er beschreibt intensiv auch den abgeschabten Sessel, das teilweise nicht-anschauen-wollen während des Erzählens, weil es ihr dann leichter fiel. Er habe sich ihrem Erzählrhythmus angepasst, um den Erzählstrom nicht versiegen zu lassen. Entscheidend sei aber gewesen, dass sie spüren konnte: „Dass ihr Leben wichtig war.“
pp/Agentur ProfiPress