Ein Land mit gebrochener Identität
Der Literatur-Professor Dieter Borchmeyer widmete sich bei seinem Vortrag bei der Lit.Eifel in Monschau der Frage: „Was ist deutsch?“
Monschau – Was ist Deutsch? Selbst ein so offensichtlich und unbestritten kluger Kopf wie der Literatur-Professor Dieter Borchmeyer kann diese simpel klingende Frage nicht mit einem Fingerschnippen beantworten. Der 77-Jährige brauchte dafür mehr als 900 in recht kleiner Schrift bedruckte Buch-Seiten, mit Anmerkungen und Register sogar mehr als 1050 Seiten.
Bei seinem Auftritt bei der Lit.Eifel im Aukloster in Monschau beschränkte er sich deshalb auch auf einen 90-minütigen Vortrag, mit dem er der Beantwortung der eingangs gestellten Frage zumindest nahekam, und anschließender Diskussion. „Das Buch ist doch schon mehr als ein Jahr alt, daraus liest man ja nicht mehr vor“, nannte Borchmeyer noch einen weiteren Grund.
Besonders der historischen Sicht widmete er sich. Immer wieder zitierte er große Dichter und Denker wie Thomas Mann, Richard Wagner, Theodor Adorno oder Immanuel Kant, die sich nämlich mit der Frage „Was ist deutsch“ in Abhandlungen befasst haben. Ihre Aussagen zusammenfassend kommt er zu dem Schluss: „Kein anderes Land auf der Welt hat so oft nach seiner eigenen Identität gesucht wie Deutschland.“
Das liege schon daran, dass es den Deutschen an einem Stamm fehle – im Gegensatz zu den Engländern (Angelsachsen) und den Franzosen (Franken). „Deutsch ist ein Sprachbegriff“, so Borchmeyer. Stattdessen definierten sich die Deutschen über die „deutschen Tugenden“. Das führte laut Adorno so weit, dass die Deutschen nur für ihrer selbst willen existierten, bis hin zur völligen Selbstaufgabe. „Ein trauriger Fall“, resümiert Borchmeyer.
Beneidet wurde Deutschland aber jahrelang um seine Kultur, die laut Borchmeyer Weltruhm erlangte, als es nach dem Dreißigjährigen Krieg beinahe vernichtet worden war. Schon Schiller beschrieb: „Wo das Gelehrte beginnt, hört das Politische auf.“ Das war die Idee der deutschen Kulturnation, die bis zum Beginn des deutschen Reiches existierte.
Spannend wurde es, als Borchmeyer den Juden Ludwig Börne zitierte, der sagte „Mensch ist der Deutsche allein.“ Das höre sich aus heutiger Sicht schrecklich an, bedeutete im Kontext seiner Zeit aber, dass das Deutschsein übernational verstanden werden sollte. „Selbst Heinrich Heine wünschte sich im Vorwort der Erstausgabe von »Deutschland. Ein Wintermärchen«, einer scharfen Abrechnung mit seiner Heimat, dass die ganze Welt deutsch sein soll. Dieses Vorwort existiert in den heutigen Fassungen nicht mehr“, wusste der Münchener Professor. Der weltbürgerliche und weltdenkende Deutsche erlag schließlich aber der Gefahr, zum Weltbeherrscher zu werden.
„Die Juden liebten Deutschland“
Das bekamen vor allem die Juden zu spüren. „Das Groteske war ja: Die Juden liebten Deutschland, bezeichneten es als ihr Mutterland – und das führte sie schließlich nach Auschwitz“, meinte Borchmeyer, der die These aufstellte: Der Nationalsozialismus war nicht nur für die Vernichtung der Juden verantwortlich, sondern auch für die Vernichtung Deutschlands.
„Menschen trauen sich ohne schlechtes Gewissen zu deutscher Nationalität, die Ausländerfeindlichkeit nimmt zu“, ist der Münchener Professor über die gegenwärtige Situation entsetzt. Einen Grund dafür sieht er in der Wiedervereinigung. „Es hat nie einen deutscheren Staat gegeben als die DDR“, zitiert er das Literaturwissenschaftler-Paar Herfried und Marina Münkler. Ausländer gab es so gut wie keine, die russischen Soldaten waren im wahrsten Sinne des Wortes kaserniert, die Vertragsarbeiter aus Vietnam im übertragenen Sinne. „Die Deutschen in der DDR kannten keine Ausländer – und jetzt kommen Flüchtlinge“, versucht Borchmeyer die momentane Situation zu erklären.
Heute ist Deutschland ein Land mit gebrochener Identität, diese Brüchigkeit bleibe der bestimmende Faktor der Deutschen. Das führe sogar zu partieller Amnesie das deutsche Selbstverständnis betreffend – und von Regierungsebene sogar zum Verlust der deutschen Historie vor dem Dritten Reich. „In den Lehrbüchern für Flüchtlinge, die das BAMF ausgibt, beginnt die deutsche Geschichte erst 1933, höchstens 1871 – davor gab es offenbar nichts“, sagt Borchmeyer kopfschüttelnd. Und weil das so ist, gab es ja auch keinen Bach, keinen Goethe. „Die deutsche Kultur wird andernorts höher gehalten als in Deutschland selbst“, kommt er zum Schluss. Die Deutschen seien Einwanderer im eigenen Land, zitiert er den türkisch-stämmigen Autor Zafer Senocak.
Dabei stünde Deutschland seit der Wiedervereinigung in der Mitte Europas – wobei die „Mitte“ eine deutsche Idee sei. Zurückgehend auf Thomas Mann, der von einem europäischen Deutschland träumte und stattdessen das Verlangen nach einem deutschen Europa erlebte. Deutschland in der Mitte müsste als Mittler verstanden werden.
Ganz im Gegensatz zum „Reich der Mitte“ China, wie Borchmeyer bei seinem fünften Chinabesuch jüngst feststellen musste. „Die Chinesen waren empört über den Vergleich“, erzählte er lachend, wie Borchmeyer überhaupt in den Phasen, in denen er frei redete, durchblicken ließ, dass er mit einer großen Portion Witz und Humor gesegnet ist. „Die Bezeichnung Reich der Mitte sieht China als Mittelpunkt der Welt, drumherum leben nur Barbaren“, habe man ihm die ursprüngliche Bedeutung erklärt.
Dennoch ist Borchmeyer ein riesiger Fan des Landes geworden. Sogar seine breite rote Krawatte, die er zur schwarzen Hose und schwarzem Hemd trug, stammte von dort. Die Chinesen ähneln den Deutschen, weil sei selbst ein Problem mit ihrer Identität haben- Und sie zeigen ein höheres Interesse an deutscher Kultur als die Deutschen selbst. Wer weiß: Vielleicht muss man ja in ein paar Jahren die Chinesen fragen: Was ist deutsch?
pp/Agentur ProfiPress