„Anders, na und?!“
Sina, Leon und Annika bekommen ihre eigene Wohnung – Verein zur Förderung innovativer Wohnformen für Menschen mit Autismus begleitet künftige Wohngruppe in Weyer
Mechernich-Weyer – Sina (18), Leon (20) und Annika (18) sind mit ihren Eltern zur Baustelle an der Weyerer Hauptstraße gekommen. Dort entsteht gerade das Haus, in das sie in einigen Monaten als Wohngemeinschaft einziehen sollen. „Anders, na und?!“ heißt der Verein, der hinter der Wohngruppe steht, denn die drei jungen Erwachsenen haben Autismus und brauchen eine Eins-zu-eins-Betreuung, um im Alltag zurecht zu kommen.
Autismus ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die sich durch ihre veränderte Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung auf die soziale Interaktion, Kommunikation und auf das Verhalten auswirkt. „Unsere Kinder leben in ihrer eigenen Welt und es ist schwierig für sie, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten“, fasst Susanne Merzenich, die Mutter von Sina, ihre Erfahrungen zusammen.
Konkret heißt das für Sina, Leon und Annika zum Beispiel, dass sie nicht sprechen können. Beim Essen und bei der täglichen Hygiene brauchen sie Unterstützung. Sie erkennen keine Gefahren (etwa eine heiße Pfanne auf dem Herd) und haben ein verändertes Schmerzempfinden. Sie haben keinen festen Schlafrhythmus und leiden häufig unter Unruhe.
„Meine Nacht war heute um kurz vor ein Uhr vorbei, das längste in dieser Woche war Viertel vor drei“, berichtet Manu Arns, die Mutter von Leon. Ein Alltag, der an die Substanz geht und mit den Jahren an den Kräften zehrt, weiß Jörg Merzenich, der Vater von Sina.
Durchs Raster gefallen
Während Sina und Annika aktuell noch die Schule besuchen, sollte Leon im vergangenen Sommer nach der Schule in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung wechseln. Nach einem erfolgreichen Praktikum sollte der echte Einstieg erfolgen. Doch ohne seine Eins-zu-eins-Betreuung, die ihn seit der Kindergartenzeit begleitet, aber für die Arbeit in einer Werkstatt nicht vorgesehen ist, funktionierte es nicht.
Seitdem ist Leon rund um die Uhr zu Hause. „Andere Angebote, zum Beispiel Tagesförderungsstätten, wie es sie in anderen Bundesländern gibt, existieren in Nordrhein-Westfalen nicht. Menschen wie Leon fallen dann komplett durchs Raster“, erklärt Manu Arns, die nur wenige Tage nach dem Ende von Leons Werkstattarbeit den Verein „Anders, na und?!“ gründete.
Es ist ein Verein zur Förderung innovativer Wohnformen für Menschen mit Autismus. Denn wie alle Menschen müssen auch Sina, Leon und Annika unabhängig von ihren Eltern werden und ihren eigenen Lebensweg gehen. Da das nicht ohne Unterstützung geht, sollen sie in dem neuen Wohnkomplex eine Wohngruppe im abgetrennten Erdgeschoss bewohnen. Sie teilen sich Küche und Gemeinschaftsraum sowie das Außengelände und ein Betreuerbüro, haben aber jeder ein eigenes Appartement mit Wohnraum und Badezimmer.
In Absprache mit dem Landschaftsverband Rheinland (LVR) wird über individuelle Hilfepläne der Bedarf an Betreuungsstunden erfasst. So kann der Verein in Abstimmung mit den Eltern die Fach- und Assistenzkräfte aussuchen, die ihre Kinder in der Wohngruppe Tag und Nacht betreuen. „Wir sind jetzt in ersten Gesprächen mit Personaldienstleistern, aber wer sich für eine solche Betreuung berufen fühlt, kann sich gerne bei unserem Verein melden“, sagt Manu Arns, die gleichzeitig erste Vorsitzende von „Anders, na und?!“ ist. Gesucht werden zum Beispiel Heilerziehungs-, Kranken- oder Altenpfleger, Sozialpädagogen aber auch Quereinsteiger.
Weyer als optimaler Standort
Der Gedanke, wie ihre Kinder später einmal ohne sie zurechtkommen können, treibt die Eltern von Sina, Leon und Annika schon seit vielen Jahren um. Für ein Altenheim sind sie zu jung, für die meisten Behindertenheime haben sie einen zu hohen Betreuungsbedarf. Das Wohnprojekt in Weyer ist für sie die optimale Lösung, zumal sie dort selbstverantwortet sind. „So können wir selbst entscheiden, was unseren Kindern guttut“, sagt Ellen Koep, die Mutter von Annika.
Dabei ist Weyer der optimale Standort, denn ohne viel Verkehr, Lärm und Menschenmassen aber nah an Wald und Natur ist die Umgebung besonders reizarm – und daher für Menschen mit Autismus besonders gut geeignet. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, am Dorfleben teilzunehmen. „Hier sind alle ganz offen“, betont Manu Arns, die mit Leon in Weyer lebt.
Noch viel zu tun
Jeden Tag kommt sie mit Leon zur Baustelle und besucht die künftige Wohnung – und Leons älteren Bruder Luca, der das Haus baut und auch als Bauherr verantwortlich ist. Unterstützt wird er dabei von seinem Vater, dem Bauunternehmer Heinz Arns aus Weyer. Bauen, Hilfepläne erstellen, Personal akquirieren, finanzielle Hilfen beantragen – es ist viel zu tun, um das Wohnprojekt zu verwirklichen. Losgelöst von dem Bauprojekt muss der Verein außerdem eine reizarme Inneneinrichtung und eine therapiefördernde Außenanlage finanzieren und ist dafür auf Spenden angewiesen.
„Wir wünschen uns, dass Sina sich hier wohlfühlt“, sagen Susanne und Jörg Merzenich. „Ich hoffe, dass Annika hier gut ankommt und diese Wohngemeinschaft bald als ihr Zuhause ansieht“, sagt Ellen Koep. Manu Arns spricht wohl für sie alle: „Ich fürchte, der Tag des Umzugs wird trotzdem der schlimmste Tag meines Lebens.“
Sina, Leon und Annika suchen noch einen vierten Mitbewohner. Wer sich für die neue Wohnform interessiert, sich als Betreuer/in bewerben oder den Verein „Anders, na und?!“ unterstützen möchte, findet weitere Infos auf der Homepage www.andersnaund.de.
pp/Agentur ProfiPress