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„Deutsche, die zufällig jüdisch waren“

Fünf Stolpersteine für Mechernich – Herzenswunsch einer 75-jährigen Deutsch-Amerikanerin geht am 6. September in Erfüllung – Jacky Schwarz aus Colorado besucht die Heimat ihrer Vorfahren – Anreise über den Rhein

Mechernich – Louisville ist ein beschauliches Städtchen im US-amerikanischen Bundesstaat Colorado. Der Ort hat ähnlich viele Einwohner wie Mechernich und verfügt über eine Bibliothek, ein historisches Museum sowie einen Golfplatz. – Genau wie Mechernich. Außerdem liegt Louisville in unmittelbarer Nachbarschaft zum bekannten „Rocky Mountain National Park“, weshalb es rund um ihn herum ein hervorragendes Netz aus Rad- und Wanderwegen gibt. Bergbau hat in Louisville ebenfalls eine lange Tradition. Entsprechend lautet auch der Name des örtlichen Baseballteams: „Miners“. – Bergarbeiter.

Vor dem Wohnhaus der Familie Zimmermann an der Mechernicher Bahnstraße 53 werden am Samstag, 6. September, fünf Stolpersteine verlegt. Foto: Kerstin Rottland/pp/Agentur ProfiPress
Vor dem Wohnhaus der Familie Zimmermann an der Mechernicher Bahnstraße 53 werden am Samstag, 6. September, fünf Stolpersteine verlegt. Foto: Kerstin Rottland/pp/Agentur ProfiPress

Jacqueline Schwarz lebt in Louisville. Auch wenn es Braunkohle war, die hier früher einmal gefördert wurde, und kein Bleierz: Dass sich die 75-Jährige Deutsch-Amerikanerin für einen Wohnort entschieden hat, der dem ihrer Vorfahren auf derart verblüffende Weise ähnelt, (obwohl er 6000 Kilometer entfernt liegt) ist schon ein interessanter Zufall. – Oder auch nicht, wer weiß? Vielleicht ist ja auch eine unterbewusste Sehnsucht daran schuld. Eine Art instinktives Heimweh, wenn es sowas gibt: Sich nach einem Landstrich zu sehnen, in dem man selbst nie gelebt hat. Dafür aber viele Generationen davor: Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel, Vetter und Cousinen, plus deren Eltern und etliche Verwandte davor.

Großvater Louis war Sanitäter im Ersten Weltkrieg

Welcher Kirchengemeinde die Menschen angehörten – ob sie katholischen, protestantischen oder jüdischen Glaubens waren – spielte niemals zuvor eine so bedeutende Rolle, wie in den 1930-er und 40-er Jahren.

Jackys Onkel väterlicherseits, Ernst Schwarz, absolvierte in London bei Siegmund Freud eine Ausbildung zum Psychiater. Seinem englischen Schwiegervater gelang es, den Flüchtenden Einreise-Visa zu besorgen. Foto: Privat/pp/Agentur ProfiPress
Jackys Onkel väterlicherseits, Ernst Schwarz, absolvierte in London bei Siegmund Freud eine Ausbildung zum Psychiater. Seinem englischen Schwiegervater gelang es, den Flüchtenden Einreise-Visa zu besorgen. Foto: Privat/pp/Agentur ProfiPress

Auf dem Land zählten oft andere Attribute: Ob jemand fleißig war, zum Beispiel, zuverlässig, vermögend oder tapfer. So wie Jacqueline Schwarz‘ Großvater mütterlicherseits, aus Mechernich: „Mein Großvater Louis Zimmermann hat im Ersten Weltkrieg als Sanitäter gedient, dafür ist er mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden“, schreibt Jacqueline Schwarz, genannt Jacky, die in Amerika Philosophie studiert hat und einen Doktortitel trägt, in einem Brief. „Meine Mutter Jetty, ihre Schwester Else und ihr Bruder Adolf wurden alle vor dem Ersten Weltkrieg geboren. Es gab für sie keinen Grund anzunehmen, dass sie jemals woanders leben würden, als in Mechernich.“

Vorfahren kamen alle aus der Eifel

Wozu auch? „Alle meine Vorfahren kamen aus der Eifel, bis ins 17. Jahrhundert zurück.“ So wäre es sicher auch weitergegangen. – Wenn nicht der Holocaust ins Rheinland gekommen wäre, der Jacqueline Schwarz` Mutter Henriette (geb. Zimmermann, genannt Jetty) und ihren Vater Josef (genannt Jupp) zwang, die einzige Heimat zu verlassen, die sie kannten: Das beschauliche Bergarbeiterdörfchen Mechernich.

Fanny Zimmermann, geborene Levy, ist die Großmutter von Jacky Schwarz. Foto: Privat/Agentur ProfiPress
Fanny Zimmermann, geborene Levy, ist die Großmutter von Jacky Schwarz. Foto: Privat/Agentur ProfiPress

„Meine Mutter arbeitete damals in den Läden der Familie Zimmermann aus Mechernich“, schreibt Jacqueline Schwarz in einem Brief, „wo sie an der Seite ihres Bruders Adolf Waren mit dem Pferdwagen auslieferte. Mein Vater hatte die Schule abgebrochen, um sich ganz der Pflege von Pferden und Rindern zu widmen. Er mochte das Leben, in das er hineingeboren wurde, und es passte zu ihm.“

Vaters Blondschopf rettete ihnen das Leben

 Auch die Liebe von Jetty und Jupp sei vorherbestimmt gewesen. „Meine Eltern waren ihr ganzes Leben lang befreundet. Sie wuchsen in Mechernich und Kommern auf. Meine Familie verstand sich 300 Jahre lang als deutsch. Als Deutsche, die zufällig jüdisch waren.“ Was in der NS-Zeit einem Todesurteil gleichkam. Doch es gibt auch glückliche Zufälle in der Familiengeschichte: Allen voran einer, der Jupp und Jetty in letzter Sekunde das Leben rettete. Dass ihr Vater nicht dem von den Nazis propagierten optischen Feindbild „des typischen Juden“ entsprach, sondern blond und blauäugig war, habe ihm an jenem schicksalhaften Tag im Jahr 1938 einen zeitlichen Puffer verschafft, den er zu nutzen wusste.

Josef Zimmermann, Jacky Schwarz Vater, lebte mit Frau und Schwiegereltern in der Bahnstraße 53. Dass er blond und blauäugig war, rette ihnen allen das Leben. Foto: Privat/pp/Agentur ProfiPress
Josef Zimmermann, Jacky Schwarz Vater, lebte mit Frau und Schwiegereltern in der Bahnstraße 53. Dass er blond und blauäugig war, rette ihnen allen das Leben. Foto: Privat/pp/Agentur ProfiPress

Jahrzehnte später erzählte er seiner Tochter von diesem alles entscheidenden Moment, als er von einer Gruppe Nazis gefragt wurde, wo Josef Zimmermann wohne. Von der wortlosen Antwort, die ihm, seiner Frau sowie deren Geschwistern und Eltern das Leben rettete: „Mein Vater hielt die Hände am Lenker, deutete mit dem Kopf nach hinten – und fuhr einfach weiter.“ Nachhause, um die Familie zu warnen und gemeinsam mit ihr Hals über Kopf zu verschwinden.

„Ich wusste mehr über Mechernich als über die USA.“

Eine weitere glückliche Fügung bei all dem Horror: Der Bruder von Jacky Schwarz‘ Vater Josef, Ernst Schwarz, absolvierte gerade in London bei Siegmund Freud seine psychiatrische Facharztausbildung. „Onkel Ernst war mit einer Engländerin verheiratet, deren Vater es gelang, meinen Eltern Visa zu besorgen. Hals über Kopf flohen Jetty und Josef Schwarz mit Jettys Eltern und Geschwistern 1938 per Schiff über London nach New York, wo im Jahr 1950 Jacqueline Schwarz geboren wurde: 6000 Kilometer entfernt von der Heimat ihrer Vorfahren.

Jackys Großvater Louis Zimmermann diente im Ersten Weltkrieg als Sanitäter und erhielt dafür das Eiserne Kreuz. Zufällig heißt der heutige Wohnort seiner Enkelin „Louisville“. Foto: Privat/pp/Agentur ProfiPress
Jackys Großvater Louis Zimmermann diente im Ersten Weltkrieg als Sanitäter und erhielt dafür das Eiserne Kreuz. Zufällig heißt der heutige Wohnort seiner Enkelin „Louisville“. Foto: Privat/pp/Agentur ProfiPress

Bei allem Schock und der Traumatisierung durch den Verlust der geliebten Heimat, die bei ihrem Vater zu diversen Autoimmmun-Erkrankungen geführt hätten, habe ihre Familie regelmäßig von alten eifeler Zeiten geschwärmt: „Meine Mutter sprach oft und mit großer Zuneigung über ihre weit verzweigte Familie“, erinnert sich Jacky Schwarz. „Als Kind wusste ich mehr über das Leben in Mechernich, als über die aktuellen Geschehnisse in den USA.“

Die fünf Stolpersteine waren ihr Herzenswunsch

Am Samstag, 6. September um 16 Uhr werden an der Bahnstraße 53 in Mechernich fünf neue Stolpersteine verlegt. Darauf: Die Namen und Geburtsdaten von Schwarz‘ Vorfahren mütterlicherseits, die dort gelebt hatten, sowie das Jahr ihrer Flucht, 1938. Neben dem Stein für Mutter Jetty hat der Arbeitskreis „Forschen, Gedenken, Handeln“ noch vier weitere Steine anfertigen lassen, nämlich für Jackies Großeltern Fanny und Louis sowie für Jettys Geschwister Adolf Zimmermann und Else Kahn. Die Stolpersteine waren ein Herzenswunsch der 75-Jährigen aus Louisville in Colorado, mit dem sie sich Anfang des Jahres per Mail an Bürgermeister Dr. Hans-Peter Schick gewandt hatte. Dieser leitete sie direkt an Rainer Schulz aus Kommern weiter.

Jetty und Josef Zimmermann, jeweils mit ihren Eltern, bei der Hochzeit im Jahr 1930. Links: Schwester Else Zimmermann, verheiratete Kahn. Foto: Privat/pp/Agentur ProfiPress
Jetty und Josef Zimmermann, jeweils mit ihren Eltern, bei der Hochzeit im Jahr 1930. Links: Schwester Else Zimmermann, verheiratete Kahn. Foto: Privat/pp/Agentur ProfiPress

Aus dem darauffolgenden Briefwechsel ist längst eine vertrauensvolle Whatsapp-Freundschaft  entstanden. Rainer Schulz zeigt auf sein Smartphone. „Jacky und ich schreiben uns oft, sie hat mir nicht nur ihre Wünsche für die Stolpersteine erläutert. Sondern auch jede Menge Fotos per Post geschickt.“ Der Kommerner zieht einen dicken Umschlag hervor, der neulich per Einschreiben bei ihm eingetrudelt ist. Der Inhalt: Ein ganzer Packen Schwarz-Weiß-Fotos.

Die 75-Jährige Jacqueline Schwarz, genannt Jacky, beim Kartenspiel mit Enkelin Ellis, zuhause in Louisville, Colorado. Foto: Privat/pp/Agentur ProfiPress
Die 75-Jährige Jacqueline Schwarz, genannt Jacky, beim Kartenspiel mit Enkelin Ellis, zuhause in Louisville, Colorado. Foto: Privat/pp/Agentur ProfiPress

Fast die gesamte fotografisch festgehaltene Familiengeschichte der Schwarzens, 80 Jahre und älter. – Was für ein Vertrauensbeweis! Solche Dinge sind es, die die vier Mitglieder des Arbeitskreises beflügeln. Die Reifferscheiderin Gisela Freier erklärt es so: „Die Geschichte von Holocaust-Opfern und ihren Nachfahren ist oft ähnlich. Vielfach gibt es da trotz allem eine große Sehnsucht. Darum wollen wir gern Kontakt zu Menschen eines neuen Deutschlands herstellen. Das ist uns extrem wichtig.“

Rheintour zum Auftakt

Zehn Tage vor dem 6. September wird die 75-Jährige Jacky Schwarz ihren Wohnort Louisville gemeinsam mit ihrer Familie verlassen. Freiwillig. Um eine Schiffsreise anzutreten, die sie zwar nicht über den Atlantik führt, aber doch immerhin sehr weit weg stattfindet, nämlich auf einem anderen Kontinent. In Europa geht es den Rhein hinab, von Basel bis nach Amsterdam. Im Anschluss wird Familie Schwarz den Geburtsort ihrer Vorfahren besuchen. – Zum ersten Mal. Vielleicht fallen sie Jacky Schwarz ja dann selbst auf: Die vielen kleinen Gemeinsamkeiten von Louisville und Mechernich.

      pp/Agentur ProfiPress