Wo Napoleon übernachtete
Ein spannender Spaziergang mit Hubert Büth durch sein Heimatviertel und die Kaller Vergangenheit – Auftakt der Ortsporträt-Reihe aus dem WochenSpiegel-Sonderheft „50 Jahre Gemeinde Kall“ im „Rundblick“
Von Manfred Lang
Kall – Wenn der vor sich hin erzählende Hubert Büth von der Loshardt hinter der Kreisberufsschule auf einem „Päddchen“ („kleiner Pfad“) abwärts Richtung Aachener Straße steigt, dann heißt es für seinen Begleiter und Zuhörer „Kopfkino“ einschalten.
Jetzt sind Fantasie und Vorstellungsvermögen gefragt, um vor dem geistigen Auge aufgrund von Hubert Büths Schilderungen Dinge erstehen zu lassen, die längst nicht mehr vorhanden sind.
Da geht es vorbei am ehemaligen Mundloch des Haackstollens, der drei Kilometer unter Tage bis in ein reiches Manganeisenfeld („Stahlfeld“) bei Golbach führte und dessen Überreste im Foyer des Berufskollegs Eifel ausgestellt sind.
Dort wurde waffenfähiges Eisen aus dem „Stahlfeld“ angelandet und verhüttet. In der sogenannten Faconhütte wurden unter anderem die 27.000 Kilo schwere Kaiserglocke („Gloriosa“) für den Kölner Dom gegossen – und der mit 1050 Kilo weltweit größte Klöppel einer freischwingenden Glocke.
Von der Dreifachturnhalle des Kollegs führt uns Hubert Büth zu seinem verschwundenen Geburtshaus und der früheren Kaplanei an der Aachener Straße (damals Adolf-Hitler-Straße) sowie dem ebenfalls nicht mehr in der Realität vorhandenen „Barbarakloster“, in dem einst Kölner Cellitinnen eine Niederlassung unterhielten und die Kaller Gemeindebevölkerung medizinisch versorgten: „Einen Arzt gab es damals nicht.“
Zum Schnabulieren ins Kloster
„Schwuppdiwupp übern Zaun und ich war in der Küche bei Schwester Philomena, die immer etwas zu schnabulieren für mich hatte“, erinnert sich der spätere Verwaltungsmann, Amtsleiter und Gemeindedirektor, der als kleiner Steppke mit seiner zwei Jahre älteren Schwester in diesem Teil Kalls aufwuchs. Schwester Notburga, eine frühere Wehrmachts-Sanitätshelferin, war die Gemeindeschwester, Frau Claßen aus Golbach die Hebamme.
Den Haackstollen, aus dem Abraum, aber eben auch wertvolles Manganeisenerz in der Nähe der Hütte (heute die Straße „Hüttengraben“) aus der Erde geschaffen wurde, lernte er als Luftschutzkeller kennen. Kall hatte bis zu 600 NSDAP-Mitglieder – und 54 Ziviltote. Allein 20 erstickten nach einem Artillerietreffer am Mundloch eines privaten Luftschutzkellers in der Nähe seines Elternhauses, fast gegenüber der alten Volksschule, die Hubert Büth besuchte und in der sich heute die Kaller Tafel befindet.
Büth hat Kall zeitlebens nicht verlassen – weder als er bei der Stadt Köln arbeitete, noch im Amt Hergarten oder bei der Stadt Mechernich oder als er seine Kommunallaufbahn 1993 bis 1999 als Gemeindedirektor von Nordrhein-Westfalens südlichster und einwohnerkleinsten Gemeinde Dahlem beendete.
Forellenfangen im Callbach
Bei Kriegsende war Hubert Büth fünf Jahre alt, das Forellenfangen mit der Hand in Urft und Callbach brachte ihm ein Nachbar bei – Vater Josef Büth, der aus Bleibuir stammte, kam erst Heiligabend 1947 aus der französischen Kriegsgefangenschaft zu seiner Frau Elisabeth, geborene Schmitz, und seinen beiden Kindern nach Hause zurück. Er hatte zwei Semester Landwirtschaft studiert und wurde zunächst von den Amerikanern auf einer schottisch-stämmigen Farm in Michigan interniert, ehe er über Frankreich zurück in die Eifel gelangte.
Napoleon Bonaparte soll fast den gleichen Weg nach Kall genommen haben. Er soll auf der Burg – sie lag zwischen der heutigen Post und dem Kreisverkehr vor der VR-Bank – übernachtet haben. Sie diente dem Herzog von Jülich als Berggericht und wurde im Zweiten Weltkrieg ebenso von Bomben zerstört wie das ehemalige Pfarrhaus und Teile der Pfarrkirche St. Nikolaus.
Im „Viertel“ am heutigen Kreisel lebten und arbeiteten viele Kaller jüdischen Glaubens, der Gedenkstein für die abgebrannte Synagoge befindet sich in unmittelbarer Nähe. Am Bahnübergang ist der schieferverkleidete und mit einem Buntsandsteinbogen geschmückte Hof des Reitmeisters Paul Heinrich Schruff gut zu erkennen. In der Loshardt befindet sich der Judenfriedhof.
Minutiös verschiebt Hubert Büth im Geiste Steine und Mauern, ergänzt sie durch verschwundene Gebäudeteile und zückt, wenn die Fantasie nicht reichen will, eine Mappe mit alten Schwarz-Weiß-Fotos, Skizzen und Langeplänen aus der Mappe, um dem staunenden Nachgeborenen ein möglichst treffendes Bild vom Kall der Vergangenheit zu zeichnen.
Ein Glück, dass jeder, der möchte, das nachvollziehen kann, auch wenn er oder sie nicht das ohne jeden Zweifel große Vergnügen hat, persönlich mit Hubert Büth durch die Straßen rund um Sankt Nikolaus zu streifen: Denn der Heimathistoriker hat 2014 einen 630-seitigen Prachttext- und Bildband über seinen Heimatort herausgebracht, der einen Kalls Weg durch die Jahrhunderte mühelos und unterhaltsam nachverfolgen lässt (ISBN 978-3-944976-13-6).
Info:
Dieses Ortsporträt erschien zunächst im WochenSpiegel-Sonderheft „50 Jahre Gemeinde Kall“, das im Sommer 2020 zum 50-jährigen Bestehen der Gemeinde erstellt worden war. In loser Folge werden im „Rundblick Kall“ alle 13 Ortsporträts veröffentlicht.
pp/Agentur ProfiPress