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„Welcher Mensch möchte ich sein?“

Geschichte der von Nazis ermordeten Lili Hirsch (12) und ihrer Familie war Thema der Lesung aus dem Buch „Zwei rostbraune Zöpfe“ mit Raphaela Kehren im Mechernicher Ratssaal

Mechernich – Kein anderes Wort war zu hören, als Raphaela Kehren im Mechernicher Ratssaal aus ihrem Buch „Zwei rostbraune Zöpfe“ las. Hinter ihr leuchteten ein Bild dieser an der Wand, aufgenommen in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. Die rund 110 Besucherinnen und Besucher, für deren großen Andrang eigens mehr Sitzmöglichkeiten hermussten, lauschten gebannt den Worten der Autorin, die auch als Lehrerin in Mechernich gearbeitet hatte.

Aufgeschrieben hat sie die so tragische wie unfassbare Geschichte der Familie Hirsch, die sie auch „über 20 Jahre später nicht loslässt“: die der Eltern Regina und Saul sowie ihrer Kinder Lili und Izak. Die jüdische Familie lebte im beschaulichen Städtchen Neumarkt in Ungarn, heute Târgu Mureș in Rumänien, bis sie 1944 vom Nazi-Regime in das berüchtigte Vernichtungslager Auschwitz Birkenau deportiert wurden. Über 1,1 Millionen Menschen fanden alleine hier ihren grausamen Tod unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Zöpfe in einer Glasvitrine

Auch Mutter Regina und ihre zwölfjährige Lili haben diese Todesfabrik nicht überlebt. Was genau mit ihnen passierte, wird man nie erfahren. Dr. Izak Hirsch, der heute im Alter von 95 Jahren in Jerusalem lebt, sind als einziges die rostbraunen Zöpfe geblieben, die Lilis Mutter dem kleinen Mädchen vor der Deportation abgeschnitten und in einem braunen Samtsack mit gelbem Davidstern darauf zu einer Nachbarin gegeben hatte.

Lili Hirsch wurde mit zwölf Jahren in Auschwitz ermordet. Ihre Familiengeschichte hat Raphaela Kehren in dem Buch „Zwei rostbraune Zöpfe“ niedergeschrieben, aus dem sie im randvollen Ratssaal der Stadt Mechernich las. Fotos: Henri Grüger/pp/Agentur ProfiPress
Lili Hirsch wurde mit zwölf Jahren in Auschwitz ermordet. Ihre Familiengeschichte hat Raphaela Kehren in dem Buch „Zwei rostbraune Zöpfe“ niedergeschrieben, aus dem sie im randvollen Ratssaal der Stadt Mechernich las. Fotos: Henri Grüger/pp/Agentur ProfiPress

Bis heute sind sie noch immer genauso, gebunden mit einem alten Schnürsenkel, erhalten geblieben und erinnern in einer Glasvitrine an die grausamen Verbrechen, die das kleine Mädchen und Abermillionen anderer Unschuldiger aufgrund der so grausamen wie sinnlosen NS-Ideologie erleiden mussten – auf das sie sich nie wiederholen, denn: „Nur Menschen können sie hervorrufen und nur Menschen können sie verhindern.“

Großer Dank für Interesse und Spenden

Rainer Schulz und Gisela Freier von der Arbeitsgruppe „Forschen-Gedenken-Handeln“ begrüßten die Anwesenden und drückten die Wichtigkeit dessen aus, dass sich die Besucher aktiv an der Erinnerungskultur beteiligten. So auch im Nachgang: „Wir sind sehr dankbar für das große Interesse, die vielen Besucher und die unglaubliche Spendenbereitschaft!“ Mit ihnen haben Wolfgang Freier und Elke Höver diesen Abend in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung geplant.

Gisela Freier informierte die Gäste über den Aufbau des Lagers und erinnerte an die vielen Toten verschiedenster Ethnien, die die Nationalsozialisten dort zu verantworten hatten – hinter dem „Eingangstor zur Hölle“. Freier: „Schlimmer, als man sich hier auf Erden die Hölle vorstellen kann. Sie sahen, was man mit Worten nicht aussprechen kann.“ Übrig sind heute nur noch Steine, doch: „Wenn diese Steine schreien könnten – sie würden schreien bis in alle Ewigkeit.“

Kehren (2. v. l.), ihr heute erwachsener Sohn Michael (r.), sowie (v. l. Wolfgang Freier, Rainer Schulz und Gisela Freier von der Mechernicher Arbeitsgruppe „Forschen-Gedenken-Handeln“, die den Abend organsiert haben, freuten sich sehr über den großen Andrang und das hohe Spendenaufkommen gegen das Vergessen.
Raphaela Kehren (2. v. r.), ihr heute erwachsener Sohn Michael (r.), sowie v. l. Wolfgang Freier, Rainer Schulz und Gisela Freier von der Mechernicher Arbeitsgruppe „Forschen-Gedenken-Handeln“, die den Abend organsiert haben, freuten sich sehr über den großen Andrang und das hohe Spendenaufkommen gegen das Vergessen.

Eine grausame Geschichte

Dann las Raphaela Kehren wie sie einst mit ihrem Sohn Michael, der auch im Ratssaal mit dabei war, im Fernsehen zunächst nur kurz Lili Hirschs rostbraune Zöpfe erblickte, die „einst so fröhlich über ihre Schultern hüpften.“ Dieser Anblick ließ die damals als freie Journalistin tätige Kehren nichtmehr los. So stellte sie den Kontakt zu Lilis Bruder Izak Hirsch her, der sich als Arzt ein Leben in Israel aufgebaut hatte. Er lud sie zu sich ein und erzählte ihr die tragische Geschichte seiner Familie.

Angefangen bei ihrer armen aber glücklichen Kindheit, bis hin zu dem Tag, als sie ein Brief der Nationalsozialisten erreichte, der sie zur Feldarbeit zwang. Damals war er vierzehn Jahre alt. Er habe Lili weinen sehen, als ihre Mutter ihre Haare abschnitt: „Ich glaube, sie wusste, dass etwas Schreckliches kommen würde.“

Angekommen in Auschwitz-Birkenau traten sie dann vor den berüchtigten Kriegsverbrecher und „Todesengel“, Dr. Joseph Mengele, der die Selektionen, also wer arbeiten musste oder direkt starb, an der „Rampe“ vornahm und an seinen Opfern zahlreiche unglaublich grausame Menschenversuche durchführte.

Fortan sah Izak Hirsch seine kleine Schwester und seine Mutter nie wieder. Doch er hatte Glück im Unglück. Als „Bursche“ von Capo Conrad, einem höhergestellten Gefangenen mit Aufsichtspflichten, wurde er besser behandelt, überlebte das Lager und versorgte sogar heimlich andere Gefangene mit Brot. Einmal sah er sogar Lilis beste Freundin aus Neumarkt hinter Stacheldraht wieder. Ihr trauriger Blick samt Kopfschütteln sprach Bände. Nach dem Krieg wurde er endlich wieder mit seinem Vater vereint, der aufgrund der Zustände im Lager sehr krank geworden war.

Rund 110 Leute plus Orga-Team sorgten dafür, dass sogar noch mehr Stühle herbeigeschafft werden mussten.
Rund 110 Leute plus Orga-Team sorgten dafür, dass sogar noch mehr Stühle herbeigeschafft werden mussten.

„Egal was, aber macht etwas!“

Als er wieder nach Neumarkt kam, das nun zu Rumänien gehörte, traf Izak auch seine ehemalige Nachbarin, die den braunen Samtsack mit Lilis Zöpfen sorgfältig „bis zu ihrer Rückkehr“ aufbewahrt hatte. Lange passte er auf die einzige Erinnerung an seine Schwester auf, bevor er sich dazu entschied, sie der Gedenkstätte zu geben, wo sie heute neben einer Ausgabe von Raphaela Kehrens Buch ausgestellt werden, mit dem die Autorin in ganz Deutschland erfolgreich war. Sie zitierte ergriffen, was Dr. Hirsch dem WDR dazu gesagt hatte: „Alle, die das Buch gelesen haben, sind meine Familie!“

Nun werden die sorgsam geflochtenen Haare in Yad Vashem verwahrt. „Dort kann sie jeder besuchen, die Zöpfe meiner kleinen Schwester.“ Bei diesen Worten brach die Autorin in Tränen aus. Langer und ergriffener Applaus erfüllte rasch den Raum. Sie betonte: „Heute ist es wichtiger denn je, sich klar zu positionieren. Der Holocaust war ein von der breiten Bevölkerung getragenes und toleriertes Projekt.“ Umso wichtiger sei es, die komplexen und oft versteckten Vorgänge dahinter zu erkennen, um zu verhindern, dass sich ähnliche Dinge wiederholen können.

Im Anschluss tauschten sich die Anwesenden mit der Autorin sowie untereinander aus und stellten Fragen. Raphaela Kehren zitierte Rotkreuz-Urgestein Rolf Zimmermann, der sich noch heute auf der ehemaligen NS-Ordensburg Vogelsang engagiert und junge Menschen zur Zivilcourage auf jeglichen Feldern aufruft: „Egal was es ist, aber macht etwas!“ So stellte man gemeinsam vor allem eine Frage auf, die sich jeder stellen muss: „Welcher Mensch möchte ich sein?“

pp/Agentur ProfiPress