Gründerväter, Ausbeuter?
Mechernicher Bergwerksgeschichte: Regionalhistoriker Peter-Lorenz Könen will Straßen nach den Kreuser-Brüdern Wilhelm, Carl, Hilarius und Werner benennen lassen – Woher hatten die „Glehner Erzfuhrleute“ 600.000 Taler, um Graf Julius zu Lippe den ganzen Bleiberg mit sämtlichen Bergwerksanlagen abzuluchsen?
Mechernich – „In Mechernich ging das Licht aus“ titelten die Zeitungen Silvester 1957. Es war Mechernichs wirtschaftlich schwärzester Tag: Auf „Spandau“, wie das Bleibergwerk im Volksmund genannt wird, fuhren die Knappen zur letzten Schicht ein. Eine mehr als zweitausendjährige Bergbaugeschichte ging zu Ende.
Ohnmächtige Wut herrschte bei den zuletzt noch knapp tausend Beschäftigten und ihren Familien, aber auch bei den Offiziellen der damaligen Kreise Euskirchen und Schleiden. Bis zu 4500 Menschen waren zur Blütezeit unter den Gebrüdern Kreuser Ende des 19. Jahrhunderts am Mechernicher Bleiberg beschäftigt.
Schleiden war der Verwaltungssitz, aber Mechernich die Kraftmaschine des damaligen vorwiegend agrarisch geprägten Kreises Schleiden. Eine ganze Region hing wirtschaftlich am Mechernicher Bergbau. Mit der Schließung „auf Spandau“ ging der Niedergang einher. Viele Knappen wechselten in den Aachener Steinkohlebergbau, die Braunkohle oder gleich ins Ruhrgebiet. Es kostete die Kommunalpolitik Jahrzehnte, die wirtschaftlichen Folgen auch nur halbwegs zu kompensieren.
Zurück in die Geschichte
Mittlerweile ist im mehrfachen Sinne Gras über die Bergbaugeschichte gewachsen. Geblieben scheint allein die mehr oder weniger ausgeprägte Sorge um geogene und bergbaubedingte Bleibelastungen in Mechernicher Böden. Die Journalistin Julia Reuss nimmt sich in diesen Tagen allerdings einer ganz anderen – historischen – Betrachtung des Bleithemas an.
Mit Hilfe des Regionalhistorikers Peter-Lorenz Könen versucht sie in „Rundschau“ und „Kölner Stadt-Anzeiger“ im Nachhinein die Rolle der erwähnten Gebrüder Kreuser zu gewichten, Erzfuhrleute und Bauern aus Glehn, die in einer Nacht dem von der Provinz Mechernich und dem Bleibergbau angeblich angeödeten Bergwerksbesitzer, dem Grafen Julius zu Lippe-Bisterfeld, sämtliche Gruben und Erzbetriebe für 600.000 Taler abluchsten.
Das wären im Vergleich zu heute mehrere Millionen Euro, wird Könen zitiert, aber unter dem Strich doch ein Dumpingpreis, wie seinerzeit eine Bergbau-Expertenrunde um Könens Vater Anton, ebenfalls bereits Regionalhistoriker, für eine 13-teilige Serie („Ende auf Spandau – 2000 Jahre Eifeler Bergbaugeschichte“) im „Kölner Stadt-Anzeiger“ konstatiert hatte.
In dieser Serie hieß es seinerzeit: „Blei, lateinisch Plumbum, Zeichen Pb., Ordnungszahl 82, Atomgewicht 207,2. Seit den Tagen der Kelten und Römer wurde in der Eifel nach diesem Schwermetall geschürft. Blei verwendete man für Bleche, Wasserleitungs- und Abflussrohre, zur Umkleidung von Kabeln, in der chemischen Industrie, für Bleikammern, Pfannen, verbleite Gefäße, Batterien, zur Fabrikation von Schrot und Kugeln sowie für die Mäntel der meisten Gewehr- und Pistolengeschosse.
In der Blütezeit am Bleiberg waren dort bis zu 4500 Menschen (1882) gleichzeitig mit dem Abbau der Erze, deren Aufbereitung und Verhüttung beschäftigt; zu Arbeitsbedingungen, die denen der Preußischen Strafanstalt nahe Berlin geähnelt haben müssen, denn aus dieser Zeit stammt der im Volksmund bis heute für das Bleibergwerk gebräuchliche und wenig schmeichelhafte Name »Auf Spandau«.
Wie auf einer Sklavengaleere
Berühmt ist ein Gemälde, das in der legendären Ausstellung »Preußen« in den 1980er Jahren in Berlin hing und das heute im Mechernicher Besucherbergwerk zu besichtigen ist. Es zeigt Dutzende Arbeiter, die in der treppenartig ausgebauten Wand des Tagebaues Virginia stehen, und das unten auf der Sohle abgebaute Erz zur Aufbereitung am Rand des Tagebaus schaffen, indem sie es mit der Schaufel mühsam von Stufe zu Stufe, immer höher schaufeln. Auf einem Felsvorsprung ist ein Mann zu sehen, der in jeder Hand einen Hammer hält und damit den Arbeitstakt vorgibt wie auf einer römischen Sklavengaleere.“
In dem neuerlichen Bericht aus der Feder von Julia Reuss ist von Ausbeutung und Manchester-Kapitalismus keine Rede. Vielmehr werden die vier Kreuser-Brüder Wilhelm, Carl, Hilarius und Werner in die Nähe von Gründervätern für Mechernich gerückt, an deren Sippe außer der Emil-Kreuser-Straße und dem Kreuser-Stift kaum noch etwas erinnere.
Unerwähnt bleiben die beiden disproportionierten Schornstein-Miniaturen am Heiligenhäuschen bei Strempt, an deren Entstehung Peter-Lorenz Könen selbst beteiligt war, und die die Schornsteine der Magdalenen-Bleihütte vorstellen, die vom Volksmund analog zur Physiognomie zweier Kreuser-Nachfahren „Langer Emil“ und „Kurzer Carl“ genannt wurden.
Ohne die Kreuser-Brüder wäre Mechernich nicht das, was es heute ist, und hätte auch keinen Anschluss an die Bahnstrecke Köln-Trier-Saarbrücken, erklärte Peter-Lorenz Könen im Gespräch mit Julia Reuss. Nicht Emil Kreuser, der Sohn eines der Brüder, sondern die Väter hätten „die Stadt Mechernich maßgeblich“ geprägt, so Könen: „Die haben epochal viel geleistet und keiner weiß was.“ Er will das ändern.
Seit Monaten schon wälze er historisches Quellenmaterial in den Archiven. Eine Frage, die ihn bei seinen Nachforschungen besonders umtreibt: Woher hatten die vier Brüder das Geld, um das Bleibergwerk zu kaufen? 600 000 Taler sollen sie dem Vorbesitzer Graf Julius zu Lippe gezahlt haben. Umgerechnet seien das heute vermutlich mehrere Millionen Euro.
Bauern und Hüttenbesitzer
Bei seinen Nachforschungen stieß Könen darauf, dass schon der Großvater der vier, Johannes Theodor Kreuser, Bleihändler war. Komplette Neulinge im Bleigeschäft waren die Brüder also nicht. Ihr Vater Johann Joseph Kreuser sei Ackerer (Landwirt), habe aber zudem auch Anteile an einer Schmelzhütte besessen.
„Solche Hüttenanteile brachten einiges an Geld“, sagt Könen. Doch auch das erkläre noch nicht das Vermögen der vier Brüder. „Könen hat allerdings Vermutungen, woher die vier das Geld hatten, will diese aber erst veröffentlichen, wenn er sich sicher ist“, so „Kölnische Rundschau“ und „Kölner Stadt-Anzeiger“.
1850 jedenfalls hätten die vier Brüder bereits die Hälfte des Bleibergwerks von Graf Julius zu Lippe gekauft, zwei Jahre später den Rest: „Die vier, die haben sich wirklich reich gemacht“, wird Könen zitiert. Es habe allerdings noch einen fünften im Bunde gegeben: Mathias Krings. Der Gerbereibesitzer aus Wesseling habe das Bleibergwerk von 1853 bis etwa 1861 mitgeführt, sei also auch ein Geldgeber gewesen, so Könen. Über ihn werde ebenfalls kaum noch gesprochen.
In den 1850er Jahren gründeten die fünf Bergwerksbesitzer den Mechernicher Bergwerkaktienverein, der über Steuern auch Geld in die Ortskasse spülte. 200 Arbeiterhäuser ließen die Brüder bauen. Mechernich, das bis dato nicht viel mehr als ein Ein-Straßen-Dorf (Turmhofstraße, Auf der Kier, Auf der Ley) gewesen sei, wuchs und wuchs – und vervielfachte seine Einwohnerzahl zwischen Anfang und Ende des 19. Jahrhunderts.
Konsum-Einkäufe mit Lohn verrechnet
„Die waren clever“, urteilt Peter-Lorenz Können über die vier Kreuser-Brüder, mancher auch „zu gerissen“, wie Werner, der Jüngste, der erste Generaldirektor des Aktienvereins, der schon ein Jahr später von seinen Brüdern aus dem Amt gedrängt wurde, weil er in den bergwerkseigenen Geschäften („Konsum“) verführerische Güter des gehobenen Bedarfs anbot, bei deren Erwerb sich die Knappen-Familien verschuldeten.
Denn die Kaufsumme wurde am Ende des Monats vom Lohn abgezogen, ein früher Vorläufer des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, der manche die Übersicht über ihre finanziellen Verhältnisse kostete. Peter-Lorenz Können in „Rundschau“ und „Stadt-Anzeiger“: „Wenn einer obenauf ist, gibt es keinen mehr, der einem Moral predigt…“
Alles in allem aber hätten die vier Kreuser-Brüder „sehr viel für die Stadt getan“, heißt es dann unvermittelt im nächsten Satz des Reports von Julia Reuss, „alleine schon durch den Bahnanschluss“. „Die Kreusers haben hier explosionsartig in 30 Jahren den Altkreis Schleiden revolutioniert“, wird PeLo Könen zitiert. Er rügt die Glehner, die in ihrer Ortschronik Familie Kreuser nicht einmal erwähnten…
Die sich in Mechernich hartnäckig haltende Behauptung, die Kreusers hätten selbst das Geld für ihre gemeinnützigen Stiftungen nach und nach den Bergleuten von ihrem Lohn abgehalten, gehe nicht auf die vier „Gründerväter“ zurück, sondern auf die ihnen nachfolgende Generation, so Könen im Interview. Der Regionalhistoriker will sich laut Zeitungsbericht für Straßenbenennungen nach oder sonstige Erinnerungsmöglichkeiten für Wilhelm, Carl, Hilarius und Werner Kreuser einsetzen.
Wie die Agentur ProfiPress bereits vor Monaten berichtete, war Peter-Lorenz Könen bei seinen Nachforschungen auf das Grab von Hilarius Kreuser und seiner Frau Josepha auf dem Bonner Stadtfriedhof gestoßen. Musiker des MV „Harmonie“ Weyer unter der Leitung des Vollemer Berufsmusikers Peter Züll spielten daraufhin vor dem Grab von Hilarius Kreuser auf dem Alten Friedhof in Bonn das Steigerlied.
„Als die Posaunen und Tenorhörner auf dem Alten Friedhof in Bonn erklingen, ist es ein Gänsehautmoment für die Besucher“ schrieb ProfiPress-Redakteurin Kirsten Röder: „Das gespielte Steigerlied ist eng mit der Geschichte Mechernichs verbunden und wurde nicht grundlos an diesem besonderen Ort und vor genau dieser Grabstätte von den Musikern des Musikvereins »Harmonie« Weyer angestimmt.“
Letzte Ruhe in Bonn
Es handelte sich um die letzte Ruhestätte von Hilarius Kreuser und seiner Frau Josepha. Er starb im Januar 1888 in Folge eines Herzleidens im Alter von 78 Jahren in Bonn. Von 1851 bis 1853 war Hilarius Bürgermeister von Eicks, von 1859 bis 1961 (da zog er nach Bonn) stellvertretender Gemeindevorstand von Glehn, so die Nachforschungen Peter-Lorenz Könens laut „ProfiPress“.
Die Expertenrunde um den Mechernicher Heimatforscher Anton Könen, die dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ für seine dreizehnteilige Serie und den Sonderdruck „Ende auf Spandau – 2000 Jahre Eifeler Bergbaugeschichte“ 1997/98 zuarbeitete, und in der auch Peter-Lorenz Könen mitwirkte, hat sich auch mit den Schattenseiten der Bergbautätigkeit beschäftigt und im Laufe der Jahre unter anderem 86 „Verunglückungen mit tödlichem Ausgang“ allein in den Jahren 1853 bis 1866 recherchiert.
Den Bericht über einen Unfall beim Schornsteinbau, der allein sechs Tote gefordert hatte, fanden die Mechernicher Quellenforscher in der Berliner SPD-Zeitung „Der Agitator“ von 1872. Hiesige Zeitungen berichteten nicht darüber, wie auch hiesige Ärzte bei den Knappen vom Mechernicher Bleiberg grundsätzlich keine Staublunge diagnostizierten.
Dr. Fanny Imle (* 2. April 1878 in Ellwangen), eine vermutlich sozialwissenschaftlich gebildete Publizistin, die Ende des 19. Jahrhunderts die Arbeitsbedingungen am Mechernicher Bleiberg untersuchte und in einem Buch festhielt, schrieb: „Die Bergarbeit ist überall gesundheitsgefährdend, besonders diejenige im unterirdischen Betrieb. Die Arbeiter klagen kaum über etwas so viel, wie über die Wetterzustände ihrer Gruben.“
„Stundenlang regungslos am Boden“
Die Hauptursache der großen Unzufriedenheit liege in der Verwendung des so genannten Chedit. Der bei der Cheditsprengung entwickelte Dunst solle ganz abscheulich sein, selbst Knappschaftsärzte sollen seine ruinöse Einwirkung auf die Gesundheit zugegeben haben. Die Bergleute lagen nach Chedit-Sprengungen oft stundenlang regungslos am Boden.
Im Übrigen war auch der Alkoholismus am Bleiberg ein ernsthaftes Problem. Reichlicher Schnapskonsum war an der Tagesordnung. Die Halbliterflasche Hochprozentiger, das so genannte „Bergmannsmaß“, galt als Ration für eine Schicht. Die Knappen betäubten sich so angesichts der wahrscheinlich sonst unerträglich harten Arbeitsbedingungen „auf Spandau“.
In einer Zeitungsveröffentlichung der 60er Jahre sind zwei Tonkrüge aus dem Besitzstand eines Mechernicher Hauers abgebildet, der eine für Schmieröl am Luftdruckhammer, der andere für Schnaps ist mehr als doppelt so groß …
Sozialgesetze sollte es erst nach der Reichsgründung 1871 unter Bismarck geben. Vorerst war es neben der am Marxismus orientierten Arbeiterbewegung unter anderem die katholische Kirche, die sich der vom nackten Elend bedrohten Arbeiterschaft annahm.
Den Anstoß kirchlichen Engagements hatte der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811-1877) gegeben. Noch im Jahr des Erscheinens von Kettelers richtungsweisender Schrift „Die Arbeiterfrage und das Christentum“ wurde am Bleiberg der „Katholische Bergmannsverein der Pfarre Mechernich unter dem Schutz des Heiligen Johannes des Täufers und der Heiligen Barbara“ gegründet.
Hilfe für die Ausgebeuteten
Wöchentlich 1,50 Mark im Krankheitsfall und 16,50 Mark als Zuschuss zu den Beerdigungskosten zahlte dieser Katholische Bergmannsverein an seine Mitglieder oder deren Hinterbliebene. 1,50 Mark die Woche im Krankheitsfall, das war nicht viel, aber man konnte dafür drei achtpfündige Konsumbrote in der 1873 gegründeten bergwerkseigenen „Konsum-Anstalt“ kaufen und damit auch eine vielköpfige Familie notfalls vor dem Verhungern retten.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war am Bleiberg nicht nur unter sozialen Gesichtspunkten von Ausbeutung geprägt. Ursache enormer Gewinne der Bergwerksbetreiber waren neben günstigen Bleipreisen vor allem ein maßloser Raubbau an reichen Erzpartien, wobei man die bleiärmeren Formationen einfach stehen ließ und eine vorsorgliche Aus- und Vorrichtung neuer Feldteile und Sohlen versäumte.
pp/Agentur ProfiPress