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„Wir alle litten großen Hunger“

Der ehemalige Oberkreisdirekter Dr. Karl-Heinz Decker berichtete in der Kuchenheimer Mottenburg von seiner Kindheit während des Nazi-Regimes, der schwierigen Nachkriegszeit und dem Aufschwung der Wirtschaftswunderzeit – Auch die Geschichte eines spannenden Standortpokers um Procter & Gamble fehlte nicht

Euskirchen – Am Ende ging es um eine Zither, ein knapp 100 Jahre altes Instrument. Es war das Markenzeichen eines stadtbekannten Euskirchener Originals. Doch dazu später. Denn an diesem Abend war die Bühne in der Kuchenheimer Mottenburg zunächst für Dr. Karl-Heinz Decker bereitet. Der Titel seines Vortrags lautete „80 Jahre leben in Euskirchen“ – und der clevere Jurist, Verwaltungsmann sowie ehemalige Oberkreisdirektor verstand es, seinen Ausführungen mit Witz, Charme und mitunter auch nachdenklich stimmender Ernsthaftigkeit einen hohen Unterhaltungswert zu verleihen.

Die zwei Stunden Vortrag waren kurzweilig und so hatte Heinz-Otto Koch, der Vorsitzende des Fördervereins des Rheinischen Industriemuseums, Tuchfabrik Müller, für die Reihe „Persönlichkeiten im Museum“ erneut einen Glücksgriff getan. „Eigentlich wollten wir Sie zu unserem zehnten Vortragenden machen, aber Corona hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht. Jetzt sind Sie der achte und wir freuen uns sehr auf Ihre Ausführungen“, sagte Heinz-Otto Koch, bevor er Karl-Heinz Decker auf die Bühne geleitete.

Der erklärte zunächst, warum er mit seinen 86 Jahren seinen Vortrag mit „80 Jahre leben in Euskirchen“ überschrieben hatte. „Mit sechs Jahren kam ich in die Schule und das ist die Zeit, wo erste Erinnerungen haften geblieben sind“, so der Euskirchener. Erinnerungen, die zunächst geprägt waren von Krieg und Nazi-Regime. Seine Einschulung 1943 an der Ostschule beschreibt er „als großes Fahnengedöns auf dem Schulhof, bei dem der Führer gepriesen wurde. Alles eine große Schau“.

Mit Witz, Charme und mitunter auch nachdenklich stimmender Ernsthaftigkeit verlieh der ehemalige Oberkreisdirektor Dr. Karl-Heinz Decker seinem Vortrag in der Kuchenheimer Mottenburg einen hohen Unterhaltungswert. Foto: Ronald Larmann/pp/Agentur ProfiPress
Mit Witz, Charme und mitunter auch nachdenklich stimmender Ernsthaftigkeit verlieh der ehemalige Oberkreisdirektor Dr. Karl-Heinz Decker seinem Vortrag in der Kuchenheimer Mottenburg einen hohen Unterhaltungswert. Foto: Ronald Larmann/pp/Agentur ProfiPress

Hakenkreuz-Fahne gekauft

Die nationalsozialistischen Repressalien spürte er später auch in der Familie. So gab es eine Baugenehmigung für einen Verwandten nur bei gleichzeitigem Eintritt in die NSDAP. Seine Mutter musste sich derweil der Befragung eines Zellenleiters stellen. Ob ihr Mann in der SS, SA oder NSDAP sei? Ob sie in der Frauenschaft Mitglied sei? Ob die Tochter denn beim BDM mitmache? Ob sie den Westdeutschen Beobachter lese? „Alle Fragen beantwortete meine Mutter mit Nein, und so flehte der Zellenleiter sie an, sich wenigstens eine Hakenkreuz-Fahne zu kaufen, damit er zumindest ein ,Ja‘ auf dem Fragebogen notieren konnte“, so Dr. Karl-Heinz Decker.

Ansonsten hätte der Parteifunktionär Schritte gegen die Familie einleiten müssen. „Am nächsten Tag kaufte meine Mutter also eine Fahne. Die kleinste, die sie kriegen konnte. Für 1,36 Mark“, erzählt der 86-Jährige. Den Kassenzettel habe sie sehr lange aufbewahrt, um den Kauf auch belegen zu können. „Sonst hätte ja einer sagen können, wir hätten sie nur geliehen“, so der ehemalige Oberkreisdirektor über diese schlimmen Zeiten, die erst mit furchtbaren Bombardierungen Euskirchens, dem Einmarsch der Alliierten und der späteren Kapitulation Deutschlands endeten.

Die Kreisstadt lag in großen Teilen in Schutt und Asche. „Diese Bilder kommen wieder hoch, wenn ich in den Nachrichten Berichte über die Ukraine oder über Gaza sehe“, so Karl-Heinz Decker, der es schaffte, das Publikum mit seinen Erzählungen in diese Zeit des Chaos‘ mitzunehmen. So berichtete er von dem großen Hunger, „den wir alle litten“. „Kartoffeln und Briketts waren damals die Währung – und Rüben. Dann daraus konnte Rübenkraut und Knollibrandi, ein Knollenschnaps, hergestellt werden.“

Als Vorsitzender des Fördervereins des Rheinischen Industriemuseums, Tuchfabrik Müller, begrüßte Heinz-Otto Koch die zahlreichen Gäste zur Vortragsreihe „Persönlichkeiten im Museum“. Foto: Ronald Larmann/pp/Agentur ProfiPress
Als Vorsitzender des Fördervereins des Rheinischen Industriemuseums, Tuchfabrik Müller, begrüßte Heinz-Otto Koch die zahlreichen Gäste zur Vortragsreihe „Persönlichkeiten im Museum“. Foto: Ronald Larmann/pp/Agentur ProfiPress

Der Chef des Schlachthofs hatte derweil ein großes Herz für die Bevölkerung. Er deklarierte hin und wieder geschlachtete Tiere als „nicht tauglich“, so dass das Fleisch samstags an die Euskirchener ausgegeben werden konnte.

Auch der Wohnraum war knapp. Die in Euskirchen stationierten Belgier beschlagnahmten viele der noch halbwegs intakten Häuser. Die Deckers durften ihre Wohnung derweil behalten. Wenngleich ein Raum von einem belgischen Offizier konfisziert wurde, der dort zweimal pro Woche mit seiner Freundin seine Schäferstündchen abhielt. Für die katholische Mutter des Vortragende eine schwere Bürde, wenngleich immer etwas zu essen abfiel, von dem, was der Offizier für sich und seine Freundin mitbrachte.

Aufschwung dank Währungsreform

Für Karl-Heinz Decker markierte schließlich der Tag der Währungsreform am 20. Juni 1948 den Wendepunkt. „Wir hatten wieder Geld, das einen Wert hatte“, so der 86-Jährige über die Erfolge des Marshall-Plans. So kam anschließend die Fresswelle, gefolgt von der Kleiderwelle und einer abschließenden Wohneinrichtungswelle.

Das Plenum war bestens gefüllt: Mit dabei waren unter anderem Euskirchens Bürgermeister Sacha Reichelt (vorne v.r.), Ex-Innenminister Dr. Ingo Wolf und Ex-Landrat Günther Rosenke. Daneben Polit-Urgestein Alois Sommer mit seiner Frau Rosa. Foto: Ronald Larmann/pp/Agentur ProfiPress
Das Plenum war bestens gefüllt: Mit dabei waren unter anderem Euskirchens Bürgermeister Sacha Reichelt (vorne v.r.), Ex-Innenminister Dr. Ingo Wolf und Ex-Landrat Günther Rosenke. Daneben Polit-Urgestein Alois Sommer mit seiner Frau Rosa. Foto: Ronald Larmann/pp/Agentur ProfiPress

Das Wirtschaftswunder war da und der Verwaltungsfachmann beteiligte sich daran, den Wiederaufbau und Aufschwung für Euskirchen mitzugestalten. Dank der Gebietsreform wuchs Euskirchen auf 60.000 Einwohner an. „Die Expansion auf rund 160 Quadratkilometer war für Euskirchen ein Segen.“ Firmen wie Miele siedelten sich an, mit der Glasfachschule im benachbarten Rheinbach gab es Bestrebungen in Euskirchen auch die Glasindustrie heimisch werden zu lassen.

Ein nervenaufreibender Wirtschaftspoker spielte sich schließlich im Vorfeld der Ansiedlung von Procter & Gamble ab. „Die Amerikaner verhandelten noch mit 28 anderen Standorten“, berichtete der studierte Jurist. Gemeinsam mit dem Euskirchener Stadtdirektor Dr. Heinrich Blaß führte Karl-Heinz Decker die Verhandlungen mit Unternehmensvertretern. Zahlreiche Hürden galt es zu nehmen. Die größten waren die verkehrlichen Anbindungen, die dank Land und Bund über den Zubringer zur A61 geschaffen werden konnten.

Dann brauchte es noch staatliche Förderungen. Nach einem Termin in Düsseldorf gab es auch dafür eine Zusage. „Als wir aus dem Ministerbüro raus waren, haben sich Heinrich Blaß und ich auf die Schulter geklopft und gesagt: Wir haben gewonnen.“ Und das hatten sie in der Tat. Mit der Ansiedlung von Procter & Gamble kamen 1976 Arbeitsplätze nach Euskirchen samt Gewerbesteuereinnahmen. „Sie glauben allerdings nicht, wer uns am Anfang große Problem bereitet hat“, sagte der Ex-Oberkreisdirektor süffisant: „Die Telekom: Sie legten nur einen Anschluss ins Werk. Später waren es dann sage und schreibe drei.“

Die Zither von Schops Löhr, einem Euskirchener Original, schenkte Dr. Ingrid Schellenberger dem Stadtmuseum. Bürgermeister Sacha Reichelt nahm sie im Beisein von Dr. Karl-Heinz Decker stellvertretend in Empfang. Foto: Ronald Larmann/pp/Agentur ProfiPress
Die Zither von Schops Löhr, einem Euskirchener Original, schenkte Dr. Ingrid Schellenberger dem Stadtmuseum. Bürgermeister Sacha Reichelt nahm sie im Beisein von Dr. Karl-Heinz Decker stellvertretend in Empfang. Foto: Ronald Larmann/pp/Agentur ProfiPress

Bestens aufgestellt

Von dieser Ansiedlung profitiert die Kreisstadt auch heute noch. Ohnehin sieht er die Stadt Euskirchen bestens aufgestellt. Karl Heinz Decker führt dafür die positive Siedlungsentwicklung ins Feld, eine gut funktionierende Wirtschaft, eine hervorragende Bildungslandschaft und eine Lebensfreude, die sich auch nach Flut und Corona wieder in fröhlichen Feiern und Volksfesten wie dem Simon-Juda-Markt niederschlage.

Damit hatte er auch den Weg für eine Überleitung zu Dr. Ingrid Schellenberger bereitet. Denn sie hatte eine Zither mit nach Kuchenheim gebracht. Aber nicht irgendeine, sondern das Instrument von Schops Löhr, einem Euskirchener Original, der jedes Fest in Euskirchen mit seiner Musik bereicherte. Und diese Zither überreichte Dr. Ingrid Schellenberger als Dauerleihgabe für das Stadtmuseum an Euskirchens Bürgermeister Sacha Reichelt.

Der bedankte sich sehr herzlich dafür und auch für den hervorragenden Vortrag von Dr. Karl-Heinz Decker. In Richtung von Heinz-Otto Koch sagte Sacha Reichelt daher: „Eigentlich spricht doch nichts dagegen, dass Herr Decker nochmal wiederkommt und auch den zehnten Vortrag hält.“

pp/Agentur ProfiPress