Heimatwechsel nach Kommern
Günther und Uschi Schulz haben ihre Erinnerungen aus einem bewegten Leben festgehalten – Wurzeln in Litauen und Österreich und Düsseldorf – Abenteuerliche Flucht im Pferdewagen über das zugefrorene Haff – Uschis Vater von Mine getötet – In der Eifel schließlich das Glück gefunden, Zweiradgeschäft und Familie gegründet
Mechernich-Kommern – „Eigentlich ist Kommern meine Heimat“, sagt Günter Schulz, der Allerheiligen 1944 im zarten Alter von neun Jahren zusammen mit seinen Eltern die ostpreußische Heimat fluchtartig verlassen musste. „Damals war ich noch zu jung, um eine enge Bindung an meinen Geburtsort Lengwethen, 25 Kilometer südlich von Tilsit, zu entwickeln“, erinnert sich der gelernte Kaufmann, Mechaniker und selbständige Unternehmer.
Am 23. November 1946 kamen die Flüchtlinge in Kommern an. Eine neue Zeit begann. „Als ich 1989 bei einer Reise mit meiner lieben Frau Uschi ins Kaliningrader Gebiet, also in den heute zu Russland gehörenden Teil der früheren deutschen Provinz Ostpreußen kam und meinen Heimatort das erste Mal wieder sah, habe ich im Gegensatz zu vielen älteren Reiseteilnehmern keine Träne vergossen.“
Der Dorfname „Lengwethen“ ist ein ursprünglich litauischer Begriff und bedeutet „lange Wiese“. Unter Hitler wurde die Kleinstadt, in der Günther Schulz das Licht der Welt erblickte, in „Hohensalzburg“ umbenannt, jetzt heißt er „Lunino“.
Günther Schulz ist heute ein fließend rheinisches Platt schwadronierender Zeitgenosse, dessen Wurzeln kein Mensch an der Grenze zu Litauen verorten würde. Ebenso Ehefrau Uschi, die ursprünglich aus der Landeshauptstadt Düsseldorf stammt, und auf die Günther Schulz 1965 ernsthaft ein Auge warf. Ursula Schmitz, die als Justizangestellte beim Amtsgericht Rheinbach arbeitete, war eine Schwester von Günthers Freunden Hans und Helmut und hatte darüber hinaus noch zwei Schwestern, Annegret und Heidi.
„Alleinerziehend“ mit fünf Kindern
Der Krieg hatte Familie Schmitz nach Kommern verschlagen. An dessen Ende stand ein besonders heftiger Schicksalsschlag, als Uschis Vater bei einer Minenexplosion ums Leben kam. Die Schwiegermutter musste fünf kleine Kinder als „Alleinerziehende“ durchbringen – „ein entbehrungsreiches Leben“, sagt die lebensfrohe Uschi Schulz heute.
Sie und Günther haben in Kommern ein Fahrrad- und Zweiradgeschäft sowie ein Taxiunternehmen etabliert und eine Familie gegründet. Schulzens, wenn man das so sagen darf, gehören zur Kommerner Gesellschaft, wie ihr Geschäft und ihre Werkstatt, die heute von Sohn Rainer betrieben werden, zum Stadtgebiet Mechernich und zur weiteren Region.
Viele Fans der Marken Kreidler, Zündapp und Herkules haben bereits in den 60er und 70er Jahren unter Günther Schulz‘ kritischen Augen an ihren Mopeds, Mofas und Mokicks mitschrauben und reparieren dürfen. Der große Meister griff nur ein, wenn die Nachwuchs-Schrauber im Begriff standen, etwas falsch zu machen.
Die Familie hat eine bewegte Vergangenheit, denn die mütterliche Linie führt nach Litauen, die väterliche ins Salzburger Land nach Österreich. Sein bewegtes Leben einschließlich der Vertreibung 1944 und der Flucht über Pommern nach Gehn hat Günther Schulz in einer 90seitigen bewegenden Autobiographie niedergeschrieben.
„Als wir in Kommern mit einem umgebauten Möbelwagen ankamen, hatten wir nur das, was wir tragen konnten“, erinnerte er sich jetzt in einem Interview mit Mechernicher „Bürgerbrief“. „Wir“, das waren die Eltern Ernst und Frieda Schulz, geb. Schimkat, und Oma Auguste geborene Hofer.
Schmiede und Fahrradreparatur
Vater Ernst hatte schon in Ostpreußen Schmied gelernt und Fahrräder repariert. Das alles war die Grundlage, um in Kommern wirtschaftlich Fuß zu fassen. Das Zweiradgeschäft, das Vater Ernst Schulz 1951 in Kommern an der Stelle des damaligen Blumenhauses Mombauer und der heutigen Eisdiele eröffnete, existiert bald seit 75 Jahren. Es gab noch zwei andere Standorte, in der Mühlengasse und jetzt in der Gielsgasse.
Vorher hatte die Familie bereits in Lengwethen bei Tilsit/Ostpreußen ein Fahrradgeschäft mit Reparaturwerkstatt. Ernst Schulz war ein ruhiger Mensch, der nie die Ruhe verloren hat, wie sich Günther Schulz erinnert. Er liebte und lebte die Geselligkeit, oft bekam er zu hören: „ Schulz, du kannst gar nicht aus dem Osten kommen – dafür bist du viel zu rheinisch.“
„Einmal verkaufte er mitten in der Nacht in der Kneipe einem Eickser ein neues Fahrrad, weil der nicht wusste, wie er nach Hause kommen sollte“, so Günther Schulz. Gehänselt wurden die heimatvertriebenen Ostpreußen in Gehn und Kommern, wo sie Wohnungen fanden, nie: „Hier war ja auch nichts, wir unterschieden uns also keineswegs von den anderen armen Leuten in den Dörfern.“
„Wir gingen bei unseren Nachbarn auf die Toilette – und einmal mussten wir mit der Leiter und durchs Fenster in die Wohnung zurück, weil der unfreundliche Vermieter das Tor abgesperrt hatte“, erinnert sich Günther Schulz.
Der junge Günther Schulz war von Kindesbeinen an sehr technikaffin. Trotzdem musste er eine Handelslehre im Kornhaus machen. Die Eltern wollten, dass er es einmal guthaben würde und im Anzug sein Geld verdienen. Der junge Mann hielt sich an den guten Rat, aber nur so lange, bis er selbst in die Firma einsteigen konnte. Der Vater brauchte seine Hilfe, weil der Laden brummte. Das war Mitte 1958. Auch nachdem Sohn Rainer Werkstatt und Laden übernommen hat, ist der fast 90-Jährige immer wieder in der Werkstatt zu finden: „Ich brauche Öl an meinen Fingern!“
Von der Memel fast bis zur Maas
Über die Flucht und den langen Treck in vielen Etappen und mit einigen langen Zwischenaufenthalten über Wochen und Monate von der litauischen Grenze bis in die Eifel verfasste Mutter Frieda Schulz, Jahrgang 1903, einen Bericht unter dem Titel „Von der Memel bis zum Rhein“. Ihr Mann, kriegsversehrt aus dem Ersten Weltkrieg, war stellvertretender Treckführer und Quartiermacher: „Er durfte sein kleines Motorrädchen behalten; ansonsten wurden alle Privatfahrzeuge zwangsstillgelegt oder konfisziert.“
Eines Tages stoppten „Kettenhunde“ den Flüchtlingszug, deutsche Militärpolizei, die so hieß, weil die Feldgendarmen ein Metallschild um den Hals trugen. Sie suchten nach älteren Männern, die noch nicht zum Kriegsdienst eingezogen worden waren. Diese noch eventuell begrenzt kampffähigen Männer sollten dem sogenannten „Volkssturm” unterstellt werden. Vater Ernst versteckte sich ganz hinten zwischen allen möglichen Gegenständen im Pferdewagen – und blieb unentdeckt.
Weiter heißt es in Mutter Friedas Fluchtbericht: „Als wir dann endlich aufs Eis der Ostsee kamen, um zum Frischen Haff zu queren, stürzten unsere Pferde, obwohl Vater vorsorglich H-Stollen in die Hufeisen geschraubt hatte. An anderen Tagen, bei guter Sicht, wurden die Trecks von russischen Fliegern mit Bordwaffen beschossen. Wir blieben verschont.“
Dafür musste die fliehende Familie viel anderes erleben, auch der kleine Günther: „Ich konnte erkennen, dass da viele tote Menschen und tote Pferde lagen. Von mehreren Flüchtlingswagen waren nur noch die Spitzen der Deichseln zu erkennen, die aus dem Eis ragten. Wahrscheinlich sind sie von der markierten Strecke abgekommen, weil das Eis brüchig oder zerbombt war. Menschen und Pferde sind ertrunken.“
Manchmal übernachteten die Flüchtlinge auf Heuböden in Scheunen: „Die Frauen also über eine Leiter nach oben, die Leiter wurde hochgezogen, das aufgemachte Loch in dem Heu wurde zugestopft, dahinter war die Lagerstätte, und die Frauen gewissermaßen geschützt. Ihnen blieben die fürchterlichen Demütigungen und Vergewaltigungen erspart. In dem Haus befanden sich lediglich nur noch ein paar alte »Mütterchen«. Vor lauter Frust, dass er keine jüngeren Frauen oder Mädchen antraf, ballerte ein betrunkener Russe mit seiner Pistole herum, dabei zersplitterte eine Zwischentür. So manche Nacht war von solchen Ereignissen geprägt; wir kamen aus Angst und Schrecken nie heraus.“
Typhus und Verstreuung
Andere aus dem Treck wurden von den sowjetischen Kräften regelrecht gekidnappt und als Zwangsarbeiter nach Sibirien deportiert. Es gab kaum Toiletten und folglich hygienische Probleme. Im Mai 1945 brach Typhus aus. Die Mutter hatte drei Wochen lang über 40° C Fieber und verlor immer mehr Gewicht. Danach bekam sie totalen Haarausfall.“ Auch Vater Ernst bekam Typhus, aber nicht mit so schweren Symptomen. Viele andere starben.
Die Großfamilie Schulz wurde schließlich über ganz Deutschland verstreut. Einige beendeten ihre Flucht in der späteren DDR, andere hielten bis in die Eifel durch. Günther Schulz und seine Eltern landeten in Kommern, genau gesagt zunächst in Gehn: „Unser Transportmittel war dieses Mal ein umgebauter Möbelwagen, versehen mit Sitzbänken. So, das war nun Endstation. Wir sind am 23.11.1946 Rheinländer geworden!“
Als Schulzes in Kommern ankamen, war es bereits dunkel, ein Bediensteter der Gemeindeverwaltung half ihnen, ihre „Klamotten” auf den Saal der Gaststätte von Michael und Anna Richartz zu tragen. Der damalige Name dieser Gaststätte war ,,Eifeler Hof“. Die Liegeplätze waren mit Stroh ausgelegt, gut 25 Leute fanden dort Obdach. Schulz: „Verpflegt wurden wir vom Nonnenkloster der Vinzentinerinnen nebenan.“
Im März 1951 gründet Vater Ernst die Firma „Zweirad Schulz Kommern“. Günther bekommt eine trügerische Augentrübung, die ihn das Augenlicht kosten könnte, die er aber überwindet. Die „Wirtschaftswunderjahre“ brechen auch für die einstige Flüchtlingsfamilie an. Bemerkenswert ist, dass sich die erste Werkstatt nicht parterre, sondern im ersten Stock über dem Blumenladen Mombaur befand. Man musste Fahrräder und Mopeds erst hochschaffen.
Noch heute in der Werkstatt
Bereits im letzten kaufmännischen Lehrjahr bei der Kornhaus GmbH während seines Urlaubs schickte Ernst Schulz seinen Sohn auf einen Fünf-Tage-Lehrgang bei Fichtel & Sachs nach Schweinfurt: „Das war meine Welt!“ Und nach seinem Einstieg in die Firma: „Wir wurden ein tolles Team. In der Folgezeit habe ich noch weitere Lehrgänge bei anderen deutschen Herstel-lern von motorisierten Zweirädern besucht, bei Kreidler und Zündapp. Ich habe meine Kenntnisse in der Zweiradtechnik ständig vertieft.“
Auch privat hätte es nicht besser laufen können. Uschi und Günther Schulz liefen sich in Kommern über den Weg, wo die Mutter der gebürtigen Düsseldorferin bis 1988 hochbetagt die Pfarrbücherei leitete. „Die Richtige läuft mir über den Weg!“, schreibt Günther Schulz in seinen Erinnerungen: 1966 ist Hochzeit, 1967 wird Sohn Rainer geboren, 1968 Tochter Daniela, 1972 Sohn Achim.
1968 ziehen Schulzes ins neugebaute Haus in der Gielsgasse mit dem neuen Fahrradgeschäft nebenan. Ursula macht den Führerschein einschließlich des Personenbeförderungsscheins. Nachmittags fährt sie Taxi, er hilft seinem Vater in der Werkstatt und übernimmt im Taxi die Nachtschicht:“ »Fahrdienstleiter« sind meine Eltern. Sie nehmen Anrufe entgegen und informieren uns über Funk.“
pp/Agentur ProfiPress