Ein stilles Fest der Hoffnung
Dieter Bertram aus Lorbach erinnert sich an die Kriegsweihnacht im Jahr 1944 – Ein Bericht, der zeigt, wie kostbar Frieden und Zusammenhalt sind und wie gut es uns heute trotz der zahlreichen Schwierigkeiten und Herausforderungen eigentlich geht
Mechernich-Lorbach – Inmitten des hektischen Weihnachtstrubels, in einer Zeit, in der Geschenke, Lichterglanz und perfekt inszenierte Festlichkeiten oft im Mittelpunkt stehen, lohnt sich ein Blick zurück. Dieter Bertram aus Lorbach teilt seine Erinnerungen an die Kriegsweihnacht 1944 – eine Zeit, in der Bescheidenheit, Hoffnung und der Zusammenhalt der Familie das Fest prägten. Sein bewegender Bericht führt uns vor Augen, was wirklich zählt: Frieden, Menschlichkeit und das Bewusstsein dafür, wie gut es uns trotz aller Herausforderungen heute in Deutschland geht. Das ist sein Bericht:
Glutheiß waren die Sommer, frostig und schneereich die Winter in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die Kinder freuten sich über den ersten Schnee und wenn vor dem Schulweg am frostklaren Himmel das Morgenrot stand, gab die Mutter uns, neben dem Schulbrot mit auf den Weg, dass das Christkind zu Weihnachten zu backen beginnt, daher das Morgenrot.
Wir wurden beflügelt in unserer Fantasie mit wenigen Nüssen, die morgens im Zimmer auf der Erde lagen, natürlich vom Nikolaus. Die Tannennadeln, auf dem Küchenofen angebrannt, verbreiteten Vorweihnachtsstimmung.
Das Leben spielte sich an den langen Winterabenden in der Küche ab. Die „gute Stube” das Wohnzimmer wurde nur zu besonderen Festlichkeiten benutzt. In der Vorweihnachtszeit blieb die Tür verschlossen. Die Mutter half dem Christkind bei den Vorbereitungen.
An den Winterabenden las die ältere Schwester gelegentlich „Hauffs Märchen” vor, als jüngster von drei Geschwistern übte ich für den Heiligen Abend ein Gedicht. Der einzig geheizte Raum war die Küche. Die Schlafzimmerfenster trugen dicke Eisblumen. Vor dem Zubettgehen holte jeder, den im Backofen vorgewärmten Ziegelstein, der in ein Moltontuch gewickelt ans Fußende gelegt wurde.
Allnächtlicher Vollalarm
Für die Kinder begann in der schneesicheren Vorweihnachtszeit ein besonderes Vergnügen. Die kurvenreichen, steilen Straßen wurden bei fehlendem Autoverkehr zum Schlittenfahren genutzt.
Wir wohnten im ländlichen Bereich, in der Nähe des Baldeneysees und boten Anfang der vierziger Jahre zunächst kein Ziel für die Kampfverbände, deren Vernichtungsfeldzug sich auf die Großstädte konzentrierte. Trotzdem wurden wir allnächtlich durch „Vollalarm” geweckt, suchten ein oder mehrmals den Luftschutzbunker auf.
Trotz zunehmender Entbehrungen versuchte die Mutter, für die Familie das Weihnachtsfest zu gestalten. Die Geschenke und das Weihnachtsessen, der Kartoffelsalat mit einem kleinen Stück Fleischwurst, blieben erhalten. Die Stimmung, die Lieder, die Krippe, der nicht mehr ganz frische Weihnachtsbaum waren der Höhepunkt.
Um fünf Uhr in der Frühe ging die Familie zur Christmette in die Ludgeruskirche, die bis auf den letzten Platz besetzt war. In der gewaltigen Kathedrale bemerkte ich als Kind, bei dem Lied „Stille Nacht, Heilige Nacht”, dass viele Menschen weinten, Väter und Söhne waren im Krieg, vermisst oder auch gefallen.
Meine kleine, heile Kinderwelt zerbrach im Spätwinter am fünften März 1943. Es war der Höhepunkt des Krieges, als wir den Bunker nicht mehr erreichten und stattdessen in den Keller flüchteten. Ein Bombenteppich wurde auf uns herabgeworfen, eine unbeschreibliche Detonation, das Licht ging aus, die Mutter warf sich zum Schutz über mich und ich glaubte, dass so das Lebensende, der Tod, wohl aussehen würde.
Es herrschte Grabesstille als wir wagten, den Keller zu verlassen, und wir blickten in einen sternenklaren Himmel. Das Haus war dem Erdboden gleich, wir hatten überlebt. Unwirklich, aber es war so, der Vater sang mit zittriger Stimme in den Himmel: ,,Großer Gott wir loben dich“.
Heimweh, Hunger, Kälte
Für unsere Familie begann eine Odyssee, eine Fluchtbewegung, die uns auseinanderriss. Um dem Bombenterror zu entgehen, wurde ich allein in die Heimat des Großvaters ausgesetzt, ein 200-Seelen-Dorf im Harz. Unter fremden Menschen wurde ich erstmalig von Heimweh, Hunger und fehlender Winterkleidung überrascht.
Der schneereiche Winter 1944 und Weihnachten rückten näher. Endlich, zwei Tage vor dem Heiligen Abend kam die Mutter, die Freude war unbeschreiblich, ich wich nicht von ihrer Seite.
Am Nachmittag, das war außergewöhnlich, weil es bitter kalt war, wollte die Mutter mit mir in den Winterwald gehen. Der Schnee knirschte unter den Schuhen, hier und da war eine Wildfährte zu sehen. Auf einer kleinen Anhöhe blickten wir auf das Dorf, in dem der Großvater geboren war.
Es war schon später Nachmittag, hier und da gingen in den Häusern die Lichter an. Nunmehr begann die Mutter, etwas stockend, den Weg in die Winterlandschaft mit mir zu begründen. Sie stand an dem größten Fest des Jahres mit leeren Händen und erklärte dem neunjährigen Sohn: „Es gibt das Christkind und es wird das Christkind immer geben“, sagte sie mit stockender Stimme. Aber das, was das Weihnachtsfest ausmacht, den Weihnachtsbaum, die Krippe, die Geschenke, der feierliche Rahmen, all das kam von den Eltern. Sie begann zu weinen, ausgelöst durch die Kriegsereignisse der letzten Monate, die Mutlosigkeit, ob unsere Familie sich noch einmal zusammenfinden würde. Es lag an mir, die Mutter zu trösten.
Traurig gingen wir zu unserer Herberge, einem kleinen Bauernhaus, in dem wir ein Zimmer besaßen. Die Dorfbevölkerung hatte keine Kriegsnot kennengelernt und stand den wenigen Flüchtlingen kritisch gegenüber.
Wir besaßen zwei Strohbetten, einen wärmenden Ofen und eine Kerze. Die Mutter erzählte die Weihnachtsgeschichte von Maria und Josef und dem Jesuskind im Stall von Bethlehem.
Von der Welt verlassen
Wir fühlten uns von der Welt verlassen, dem Bombenkrieg mit all seinen Schrecken waren wir entflohen, aber der Sorge und Einsamkeit konnten wir nicht entfliehen. Die Familie und die Verbindungen waren abgerissen. Der älteste Bruder galt seit einem halben Jahr, als vermisst in Russland. Ein postkartengroßes Bild hatte die Mutter bei sich, stellte es auf und weinte viele Tränen.
Spät klopfte es an der Tür. Unsere „Kleinhäusler”, es war ein Ziegenbauer, lud uns in die gute Stube ein. Ein festlich geschmücktes Zimmer mit duftendem Weihnachtsbaum, Gebäck wurde uns angeboten, darüber hinaus gab es selbstgebackenes Brot, Ziegenbutter und Schinken.
Die Bäuerin mit ihrer Tochter hörten sich von der Mutter die Kriegserlebnisse an. Ich bin auf der warmen Ofenbank in den ersten Weihnachtstag hinein geschlafen. Weihnacht und Heiliger Abend 1944.
Nachtrag: „Not lehrt beten”, sagt der Volksmund. So geschah es, dass ein halbes Jahr später, der Krieg nicht nur beendet, sondern am 6. Juni 1945 die Familie krank und kriegsverletzt, aber vollzählig wieder zusammengefunden hat.
Dass uns eine Hungersnot bevorstand, dass ich als Elfjähriger beim Kartoffelstehlen auf dem Feld von einem Wächter gefasst und mit dem Gummiknüppel malträtiert wurde, das ist eine eigene Geschichte.“
Zum Autor
Dieter Bertram ist Jahrgang 1935. In Thalfang im Hunsrück war seine erste Stelle als Wildmeister, wo er auch seine Frau Doris kennenlernte. Später sollte die Familie nach Kommern umziehen. Dort kümmerte sich Dieter Bertram für die August-Thyssen-Hütte um das Wild. Bis in die 1980er-Jahre lebten die Bertrams mit ihrer Tochter und den beiden Söhnen in einem Haus gegenüber dem Eingang zum Freilichtmuseum.
Als das Revier aufgegeben wurde, siedelten sie ins Sauerland über, wo der Autor bei der Forstverwaltung des Ruhrverbands für Wildbestand, Ökologie und Naturschutz zuständig war. Eine Herzensaufgabe für den passionierten Naturfreund. Bis heute ist er in der „Gesellschaft zur Erhaltung der Raufußhühner“ aktiv.
Nach der Pensionierung ging es zurück in die Eifel. „Ich kann mir keinen Platz vorstellen, wo ich lieber leben würde“, wird Dieter Bertram im Zeitungsbericht zitiert. 1998 zogen sie in das alte Fachwerkhaus im Mechernicher Ortsteil Lorbach, das Doris Bertram in ihrer Kommerner Zeit liebevoll und mit viel persönlichem Einsatz renoviert hatte.
pp/Agentur ProfiPress