Das unterschätzte Szenario
DRK-Schwesternschaften und Einsatzkräfte übten gemeinsam die Evakuierung von pflegebedürftigen Menschen im Katastrophenfall – Realistische Großübung in Vogelsang zeigte die Herausforderungen einer Lage, die angesichts einer immer älter werdenden Bevölkerung an Bedeutung zunimmt
Vogelsang – Im Flur bricht eine Bewohnerin plötzlich zusammen. Sie hat vermutlich ihr Insulin nicht bekommen. Orientierungslos wandert ein Demenz-Patient umher, weil er seine längst verstorbene Frau sucht. Ein junger Mann hat seine Tochter auf dem Arm und fordert die Einsatzkräfte penetrant dazu auf, sich doch endlich um die Oma zu kümmern. Und im Aufenthaltsraum lassen sich Gertrud (Pflegegrad 2), Irmgard (Demenz), Elfried (COPD) und Hannelore (Herzrhythmusstörungen) bei ihrem Memory-Spiel nicht aus der Ruhe bringen.


Es herrscht Chaos beim Übungs-Szenario im Transit 59. Das DRK-Gebäude in Vogelsang wird für einige Stunden zur Seniorenresidenz Sonnenschein, die dringend evakuiert werden muss. Das Besondere: Hier sind nicht nur Einsatzkräfte des DRK angerückt, sondern auch examinierte Pflegefachkräfte verschiedener DRK-Schwesternschaften. Gemeinsam sollen sie Hand in Hand darf sorgen, dass die Evakuierung bestmöglich gelingt. Dafür bringen beide Gruppen ihre jeweiligen Stärken mit in den Einsatz. Die einen die Expertise aus dem Katastrophenschutz und die anderen das Wissen um den Umgang mit pflegebedürftigen Menschen.


Dass eine solche Zusammenarbeit extrem wichtig ist, hat die Flut 2021 gezeigt. „Damals hatte das noch niemand auf dem Schirm“, erläutert Rolf Zimmermann, der mit dem DRK-Team in Vogelsang sozusagen Gastgeber für die Übung ist. Keiner habe damals gewusst, wo sind überall Pflegeplätze, wo werden Menschen zuhause gepflegt und wo müssen pflegebedürftige Menschen, teils bettlägerig, evakuiert werden. „Das ist definitiv ein unterschätztes Szenario“, sagt Zimmermann. Eines, das mit einer immer älter werdenden Gesellschaft deutlich an Bedeutung gewinnen wird.
Handlungsfeld für den Bevölkerungsschutz
Das hat auch die DRK-Schwesternschaft in Zusammenarbeit mit dem DRK-Kreisverband Euskirchen frühzeitig erkannt. „Wir haben vor drei Jahren damit begonnen, Schulungen für unsere Mitglieder zu konzipieren und durchzuführen“, sagt Dr. Frauke Hartung, Oberin der DRK-Schwesternschaft Bonn. Inzwischen habe man bundesweit bereits 200 Pflegefachkräfte und Krankenschwestern in einer Basisschulung fit gemacht für diese wichtige Szenarien. Weil es so wichtig ist, hat die Oberin auch einen klaren Appell an die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung: „Die Pflege muss unbedingt als strategisches Handlungsfeld im Bevölkerungsschutz mitgedacht werden.“


Das DRK hat derweil bereits losgelegt. So wurde zum Beispiel ein Anhänger angeschafft, der mit nützlichen Utensilien bestückt ist, die insbesondere für pflegebedürftige Menschen wichtig sind. Dieser Anhänger soll im Katastrophenfall wertvolle Dienste leisten. Wertvolle Erkenntnisse sollte die Übung in Vogelsang liefern, die auch deshalb so besonders ist, weil erstmals im großen Rahmen ein derartiges Szenario aktiv geübt wurde. Die enge Kooperation wurde von Karl Werner Zimmermann, Vorsitzender des DRK-Kreisverbands, und DRK-Kreisbereitschaftsleiter Lars Klein ausdrücklich begrüßt und begleitet. Beide machten sich vor Ort persönlich ein Bild von der Zusammenarbeit zwischen Einsatz- und Pflegekräften.


Federführend organisiert hatte die Übung Simone Pesch, die als Referentin für Pflege im Bevölkerungsschutz der Bonner Schwesternschaft und als Euskirchener DRK-Aktive beide Bereiche bestens kennt. Mehrere Wochen hat sie mit einem engagierten Team die Übung vorbereitet, das Szenario ausgearbeitet und die Rollen der verschiedenen Akteure kreiert. So waren Einsatzkräfte der Kreisverbände Euskirchen, Bonn, Rhein-Sieg und Kleve-Geldern an der Übung beteiligt. Die Schwesternschaften aus Lübeck, Bonn, Stuttgart und die Badische Schwesternschaft waren mit 15 Mitgliedern vertreten. Knapp 25 Ehrenamtler stellten sich als Schauspielerinnen und Schauspieler zur Verfügung.
Vorbereitung im Summercamp
Im Rahmen eines Summercamps in Vogelsang hatten sich die 12 Mitglieder der Schwesternschaften zuvor intensiv auf die Abschlussübung vorbereitet. Sie alle hatten bereits eine Basisschulung mit reichlich Theorie absolviert und konnten nun das Gelernte in der Praxis umsetzen. Dazu gehörte es, zwei Häuser, das Fluchthaus und das Gebäude Transit 59, zu evakuieren und die Bewohnerinnen und Bewohner sicher in die Rotkreuz-Akademie zu bringen, wo ein Konferenzraum zum Bettenlager umfunktioniert wurde. Zur Übung gehörte es dann auch, mobile Pflegebetten der Firma Disc-O-Bett fachgerecht aufzubauen.


Für Simone Pesch stand am Ende fest: „Alles richtig gut gelaufen.“ Wo Fehler passiert seien, diene das lediglich dazu, sich weiterzuentwickeln. Demnach konnte auch Dr. Frauke Hartung ein positives Fazit ziehen: „Wir haben viel voneinander und miteinander gelernt und abschließend lecker zusammen gegessen. Danke für diesen schönen und erfolgreichen Tag.“


Ein Tag, bei dem am Ende alle Betroffenen wohlbehalten in der Rotkreuz-Akadamie angekommen sind. Die Bewohnerin, die im Flur plötzlich zusammengebrochen war, hatte sich nach der Behandlung schnell wieder erholt. Der orientierungslos umherwandernde Demenz-Patient hat es ebenfalls wohlbehalten in die „Notunterkunft“ geschafft, wo er seiner Krankheit entsprechend bestens betreut wurde. Der junge Mann konnte dort mit seiner kleinen Tochter und der Oma auch wieder zur Ruhe kommen. Und selbst Gertrud, Irmgard, Elfried und Hannelore legten ihr Memory-Spiel schließlich zur Seite und fühlten sich bestens aufgehoben in der Notunterkunft.


pp/Agentur ProfiPress