Erzählerische Wucht und filigrane Beschreibungen
Der belgische Schriftsteller Stefan Hertmans vermittelte beim Eifel Literaturfestival in Bitburg vor rund 200 Gästen tiefe Einblicke in seine literarische Arbeit
Bitburg – Der Mann ist ein wahrer Meister des Wortes, ein literarisches Schwergewicht. In seiner Heimat Belgien hat er eine wahre Flut von Romanen veröffentlicht – sehr viele davon in niederländischer Sprache. Er hat ein Haus in der Provence, lebt in der Nähe von Brüssel, spricht flämisch, französisch, englisch und deutsch, hat zahlreiche Preise für seine literarischen Werke erhalten und dennoch wurden in Deutschland erst wenige seiner Bücher (2014: „Der Himmel meines Großvaters“ und 2017 „Die Fremde“) übersetzt und veröffentlicht. Am Freitag war Stefan Hertmans auf Einladung des Eifel Literaturfestivals im Haus Beda zu Gast. Mitgebracht hatte er seinen Roman „Die Fremde“, aus dem er den rund 200 Gästen einige Passagen vortrug.
Eines verblüffte an diesem Abend: Das Durchschnittsalter des Publikums war für eine Lesung mit einem in Deutschland relativ unbekannten Schriftsteller erstaunlich niedrig. Des Rätsels Lösung zeigte sich ebenso einfach wie erstaunlich: Zwei Exzellenzkurse des Bitburger St.-Willibrord-Gymnasiums waren mit ihren Lehrkräften zu der Lesung gekommen. Selbst für den ehemaligen Gymnasiallehrer und Festivalleiter Josef Zierden ist eine solch positive Resonanz längst keine alltägliche Sache mehr, die er nun an der Motivation der betreuenden Lehrkräfte verortete. Ein Interesse, das aber auch dem Star des Abends, Stefan Hertmans – auch er hatte zeitweise als Lehrer für Philosophie und Kunstgeschichte gearbeitet – gefiel. Er war der Einladung des Gymnasiums gefolgt und bereits im Laufe des Tages mit den Schülern zusammengetroffen, um sich deren zahlreichen Fragen zu stellen.
Manchmal kann Josef Zierden nicht anders, dann übernimmt er zum Vergnügen der Zuhörer gekonnt die Rolle des Agent provocateur. So auch bei dieser Veranstaltung. Er habe sich auf der Homepage der Universität Münster über die Rolle Belgiens in der Literatur informieren wollen. Was er dort vorfand, konnte ihn nicht zufriedenstellen. „Ist Belgien tatsächlich ein literarisches Niemandsland?“, wollte er von Stefan Hertmans wissen. Eine Frage, die der Autor temperamentvoll mit dem Wort: „Blödsinn!“ beantwortete und in aller Entschiedenheit zurückwies. Es gebe eine ganze Reihe von tollen Schriftstellern, die das Ausland nur nicht als belgische Autoren wahrnehme, weil ihre Bücher nicht übersetzt würden, stellte er klar.
Kleine Wortgefechte wie dieses waren eine der Besonderheiten dieses Abends. Eine andere war, dass Hertmans nicht wie andere Autoren längere Passagen aus seinem jüngsten Werk vortrug. Vielmehr nahm er mit Lichtbildern seine Zuhörer mit auf den Weg in die Provence, hinein in sein Dorf Monieux, wo er ein Haus besitzt. Dort war es auch, wo er erstmals von dem Mädchen erfuhr, das er in seinem Roman Vigdis nennt. Eine Christin, die im elften Jahrhundert dort lebte und sich in den Sohn eines jüdischen Rabbis verliebte und diesen auch ehelichte, wodurch sie durch Heirat zur Jüdin wurde. Originaldokumente aus jener Zeit erzählten das Schicksal dieser jungen Frau, die schließlich ganz allein vor den im Namen Christi mordenden und brandschatzenden Kreuzrittern auf dem Weg nach Jerusalem bis nach Kairo floh.
Die Geschichte dieses Mädchens und damit die Geschichte von Liebe, Gewalt und religiöser Verfolgung habe ihn nicht mehr losgelassen, berichtete Hertmans. Je mehr er im Zuge seiner jahrelangen Recherche über sie erfahren habe, umso fesselnder sei diese Figur für ihn geworden. Und ja – er habe sich auch ein Stück weit in diese junge Frau verliebt, sagte er. Das ging so weit, dass er der Fluchtroute folgte: „Ich wollte ihr so nahe sein wie möglich.“
Zusammenkunft nach 1000 Jahren
Doch was hat ihn daran so fasziniert? „Der Beginn“, so die Antwort. Die Tatsache, dass das Mädchen in genau dem gleichen Dorf gelebt habe, in das er durch einen Zufall gekommen war: „Sie war meine Nachbarin.“ Und vermutlich auch die Tatsache, dass in dieser Geschichte, in der Christen, Juden und Muslime die Akteure sind, nach 1000 Jahren Vergangenheit und Gegenwart mit der gleichen Wucht wieder aufeinandertreffen.
Die Sprache von Stefan Hertmans ähnelt der eines klassischen Malers. Sie ist detailreich, begeistert, wo es angebracht ist, durch ihre Wucht, zeichnet sich an anderer Stelle wiederum durch filigrane Artikulation aus. Der Erzählstil fesselt, breitet die Handlung vor dem geistigen Auge aus wie ein opulenter Film in Cinemascope.
Seine Schreibe sei kein Zufall, gibt Hertmans zu. Den bildreichen Aufbau führt er auf seinen Großvater zurück, der akribisch große Meister wie Tizian und Rembrandt kopierte: „Er hat mich gelehrt, die Schönheit zu sehen und zu lieben.“
Den Ausdruck der Sprache habe er sich bei Marcel Proust abgeschaut, der ein wahrer Meister war, wenn es galt, Gerüche und Details zu beschreiben. Eine Eigenschaft, derer es gerade bei der Beschreibung einer mittelalterlichen Szene unbedingt bedürfe: „Wir können uns heute kaum noch vorstellen, wie sensitiv diese Welt damals war.“
Es war ein ebenso spannender wie interessanter Abend im Haus Beda, bei dem Stefan Hertmans tiefe Einblicke in seine Arbeitsweise ermöglichte. Wohl nicht zuletzt deshalb nutzten am Ende der Veranstaltung viele der Besucher noch die Möglichkeit zu einem persönlichen Gespräch.
Auch die beiden kommenden Veranstaltungen des Eifel Literaturfestivals finden in Bitburg statt. Am 7. September liest Anselm Grün in der Stadthalle aus seinem Buch „Von Gipfeln und Tälern des Lebens“ und am 14. September stellt Raoul Schrott im Haus Beda sein Buch „Erste Erde“ vor.
pp/Agentur ProfiPress