Der Alltag vor 100 Jahren
Portal „Alltagskulturen“: Gegen das Vergessen in einer schnelllebigen Zeit – Digitale Dokumentation im Freilichtmuseum Kommern und anderen Einrichtungen des LVR
Mechernich-Kommern – Welche Verbindungen gibt es zwischen Herrenhutbändern, orthopädischen Bandagen und Nierengurten? Wie lebte es sich am Nierentisch zwischen Möbeln in Eiche-Rustikal? Was bedeutete der Übergang von Kohle- zu Elektroherden für die Speisenzubereitung? Und was hat das alles mit dem Rheinland zu tun? Auf solche durchaus spannenden Fragen gibt das neue digitale Portal „Alltagskulturen“ Antworten. Es befasst sich mit dem Alltagsleben im Rheinland und den tiefgreifenden Wandlungsprozessen, die es im 20. Jahrhundert durchlaufen hat. Das große Projekt zum kulturellen Erbe im Rheinland wird – zunächst für fünf Jahre – von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert
Seit nunmehr vier Jahren dokumentieren Sarah Höner und Matthias Fieder im LVR-Freilichtmuseum Kommern Objekte des Alltagslebens unterschiedlichster Art, erfassen sie digital und stellen sie in das Portal ein. Vieles müssen die beiden jungen Wissenschaftler selbst in Bergen von Fachliteratur nachschlagen.
Höner und Fieder sehen sich im Wettlauf mit einer Zeit, deren Schnelllebigkeit für den Verlust von viel überkommenem Wissen sorgt. Denn etliche Dinge, mit denen die Großeltern noch aufwuchsen und die sie täglich nutzten, sind für junge Menschen oftmals Antiquitäten, deren Sinn und Funktion auch auf den zweiten Blick noch rätselhaft bleiben.
Wie das herausnehmbare „Wasserschiffchen“, das früher im Kohleherd eingesetzt war, dessen Feuer mühsam über Lüftungsklappen reguliert werden musste. Dessen heißgekochten Inhalt goss man dann zum Aufbrühen über den frisch in einer kleinen Handmühle gemahlenen Kaffee, der damals noch nicht vakuumverpackt und schon gar nicht fair gehandelt wurde.
Rezepte entnahmen die Hausfrauen reichhaltig bebilderten und meist von Lebensmittelherstellern vertriebenen Heften, anstatt durch Wischen über das Smartphone schnell mal bei chefkoch.de zu surfen.
Das Thema Ernährung bildet im Portal „Alltagskulturen“ nur einen von vielen Forschungsschwerpunkten. Auch das Wohnen und Arbeiten im 20. Jahrhundert wird dokumentiert. So haben Höner und Fieder die erste deutsche Anbauküche aus Serienproduktion mit allem Zubehör aufgenommen, die 1950 auf der Kölner Möbelmesse vorgestellt wurde. Und auch den dreitürigen Schlafzimmerschrank, den ein Mechernicher Kunstschreiner für ein gut situiertes Ehepaar aus Schleiden angefertigt hat.
Besonders fasziniert ist Fieder von der wuchtigen Fernseh- und Stereomusiktruhe inklusive Plattenspieler, die mit 82 kg wohl mehr als manch ehemaliger Besitzer wiegt, ein Vermögen kostete, dafür aber den exotisch klingenden Modell-Namen „Maharadscha“ trägt. Sarah Höner indes hat sich mit dem im Rheinland tief verwurzelten, aber heute fast unbekannten Handwerk der Bandweberei befasst: „Fertigte man hier früher vor allem Bänder als modisches Accessoire an, um Kopfbedeckungen oder Kleider auszustaffieren, so stellen dieselben Unternehmen heute Bandagen, Fahrradhelmbänder oder Sicherheitsgurte für Autos her“, hat die Wissenschaftlerin herausgefunden.
Das LVR-Freilichtmuseum Kommern hat in Zusammenarbeit mit dem LVR-Freilichtmuseum Lindlar und dem LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte in Bonn aus den umfangreichen Sammlungsbeständen der Kultureinrichtungen bislang über 7.000 Quellen unterschiedlichster Art exemplarisch ausgewählt und digital erfasst. Viele Objekte werden jetzt erstmals der Öffentlichkeit präsentiert.
Wer auf alltagskulturen.de klickt, findet nicht nur die Objekte, sondern auch genaue Beschreibungen, Fotodokumente und bald sogar Interviews zum Objekt. Und damit öffnet das Portal den faszinierenden Blick auf das Leben der vergangenen einhundert Jahre.
pp/Agentur ProfiPress