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Spätstarter vor Höhenflug

Der Schriftsteller Norbert Scheuer vollendet sein 70. Lebensjahr, eine Würdigung

Mechernich/Keldenich – Unter dem Titel „Die Vulkane sind erloschen, die Sehnsüchte sind es nicht“ widmet die renommierte „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ dem Schriftsteller Norbert Scheuer eine Hommage zum 70. Geburtstag.

Fritz-Peter Linden, Redakteur beim Trierischen Volksfreund, stilisiert den 1951 in Prüm geborenen Wahl-Bleiberger eifelweit zu „unserem Mann in der Gegenwartsliteratur“ und ermutigt die Leser, Scheuers Erstlingsroman „Der Steinesammler“ zitierend, eine Flasche Siegerkorn aus dem Kühlschrank zu holen und auf das Geburtstagskind anzustoßen.

Sandra Kegel schreibt in der FAZ: „Er macht das Kleine zum Ereignis.“ Der gelernte Elektriker und studierte Diplomingenieur, der seine Brötchen zeit seines Arbeitslebens als Systemanalytiker bei der Telekom verdiente, verfügt über einen Philosophie-Abschluss und verwandelte in bislang 13 Büchern, darunter neun ineinander und die Protagonisten untereinander verschachtelten und verschachtelnden Romanen „die Eifel in eine doppelbödige Welt“, so die FAZ.

Norbert Scheuer (70), belletristischer Spätstarter mit Tiefgang auf dem Sprung nach ganz oben… Foto: Elvira Scheuer/pp/Agentur ProfiPress

„Ereignislose Weltgegend“

Das „imaginäre Scheuer-Land“, eine „scheinbar ereignislosen Weltgegend jenseits des Rheins“, macht die Laudatorin Sandra Kegel zwar irrtümlicherweise zur „Vulkanlandschaft aus Wiesen, Windrädern und versprengten Ortschaften“. Immerhin erklärt sie die Abraumhalden am Kallmuther Berg in ihrem Elogium auf Norbert Scheuer zu „künstlich aufgeworfenen Hügeln in der Ferne, die sich nur dem Kenner als militärische Sperrzone offenbaren, deren unterirdisches Tunnelsystem mit eigenem Bahnanschluss im Kalten Krieg als Militärdepot dienen sollte“.

Erst mit 43 Jahren debütierte der Autor in den 80er Jahren, 1994 gab der Kreis Euskirchen seinen Erzählband „Der Hahnenkönig“ heraus, „Lyrikpapst“ Karl Otto Conrady entdeckte Norbert Scheuers Gedichte. Literaturpreis folgte auf Literaturpreis. Dass Scheuer als Lyriker begann merkt man seiner Prosa bis auf den heutigen Tag an. Da ist jedes Wort fein abgewogen – und stimmt aufs Gramm.

In Scheuers Büchern fühlt man sich rasch zu Hause. Und ein „neues“ Buch aus seiner Feder ist nicht wirklich „neu“, sondern ein Weitererzählen über die Menschen, die Eifel und das Leben, wie es so spielt, an der Oberfläche, vor allem aber tief darunter…

Lit.Eifel-Lesung mit Norbert Scheuer 2019 aus dem neuen Roman „Winterbienen“ in der vollbesetzten Pfarrkirche St. Antonius in Rott. Foto: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress

Fixsterne in einer Straßenpfütze

Mit voller Wucht trifft den Leser seine Welterfassung aus dem kleinen Kosmos Kall heraus, wenn er vor sein Lieblingscafé an einem Kaller Supermarkt tritt und in einer Straßenpfütze das Spiegelbild zweier Fixsterne aus der Unendlichkeit des wirklichen Weltalles erblickt. Norbert Scheuers Welt- und Lebenskunde in zweieinhalb Sätzen. Ett öss, wie et öss.. Und zwar bei aller Widersprüchlichkeit und Abgründigkeit irgendwie faszinierend.

Seine Qualität als Autor verdankt der nunmehr seit wenigen Tagen 70-Jährige seiner wechselvollen Kindheit (die Eltern zogen mehrere Male um), dem immer gleichen und doch so abstufungsreichen „Thekenverzäll“ ihrer Gäste, seinem eigenen „normalen“ Berufs- und Familienleben, dem Philosophiestudium, den lyrischen Fingerübungen, seinem vergleichsweise späten Start als Schriftsteller und dem anfänglichen Ausbleiben von Erfolg und Popularität.

So paradox das Letztere auch klingen mag und worunter der preisgekrönte Autor auch zeitweise zu leiden schien, als er im Interview beklagte: „Ja, die Juroren diverses Literaturwettbewerbe kennen mich…“ Aber seine Bücher wurden nicht gelesen. Jedenfalls nicht in der Intensität und von allen, auch in seinem Heimatdorf Keldenich und der Eifel überhaupt, wie er sich gewünscht hätte.

Doch ein jugendlicher Norbert Scheuer, den die Leser, die Medien und nicht zuletzt die Verlage vorzeitig in den literarischen Olymp katapultiert, ihn hofiert, manipuliert und neu programmiert hätten, stünde nimmermehr dort, wo der echte Neu-Siebziger sich jetzt befindet.

Das mit der Lesegemeinde und Publikumsakzeptanz hat sich nämlich inzwischen gründlich geändert! Scheuers Romane kommen regelmäßig auf die Long- und Shortlists des Deutschen Buchpreises und der bislang letzte, „Winterbienen“ von 2019, auch dorthin, wo er schlussendlich hingehört: auf die Bestsellerliste. Dort wird man Norbert Scheuers folgende Werke – das nächste Buch kommt 2022 – zu Recht in Zukunft suchen müssen.

Lit.Eifel-Heimspiel e-regio: Norbert Scheuer im Gespräch mit dem Moderator Manfred Lang von der Agentur ProfiPress, dem Verfasser dieser Zeilen. Foto: Sarah Winter/pp/Agentur ProfiPress

Mengenlehre oder Rembrandt?

„Man kann Scheuer-Romane mit Gewinn als Solitäre lesen“, schreibt Sandra Kegel in der FAZ: „Aber erst in der Gesamtschau lässt sich die Kontur seiner Literatur bemessen, die dem Kleinen höchste Priorität verleiht und ein Geflecht aus Personen, Konstellationen und Beziehungen erschafft, das sich nicht etwa linear von Roman zu Roman weiterentwickelt, sondern vielmehr flächig gearbeitet ist.“

Weil Scheuers Romane nicht nur in der Zeit vor- und zurückgleiten, sondern sich auch seitwärts bewegen – zu Nachbarn, Nachkommen, Nebenlinien. Sandra Kegel: „Wollte man diese Literatur zeichnen, käme dabei gut möglich ein Mengendiagramm heraus, dessen viele Kreise aus lauter kleinen Handlungen und Entscheidungen das Gefüge insgesamt verändern.“ Oder ein großer Rembrandt… C’est la vie, su öss et Lövve…

pp/Agentur ProfiPress