Per Viehwaggon in den Tod
Im Zentrum einer Gedenkveranstaltung im Mechernicher Rathaus stand das Thema Deportation von jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern – Gemälde von Hilla Richarz ist ein Zitat an ein Mahnmal in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem – Sechs weitere Stolpersteine werden in Mechernich verlegt
Mechernich – 14 Jahre ist Dr. Hans Josef Horchem alt, als er Hilde Herz auf dem Mechernicher Bahnhof sieht. Später wird er über diese Begegnung in seinem Buch „Kinder im Krieg“ schreiben. Hilde war seine Klassenkameradin. Sie ist gerade mal 13 Jahre alt, der gelbe Judenstern auf ihren Mantel genäht. Vor geraumer Zeit war sie noch eine ganz normale Mitschülerin, dann verschwand sie, wurde mit ihrer Familie in ein Judenhaus nach Kalenberg gebracht.
Das junge Mädchen und diese Geschichte spielen eine immer wiederkehrende Rolle bei einer Gedenkveranstaltung im Mechernicher Rathaus, mit der an die deportierten jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger erinnert werden soll. Aus diesem Anlass wurde auch ein Bild der Künstlerin Hilla Richarz enthüllt. Es zeigt einen Viehwaggon auf Schienen, die über einem Abgrund enden – ein Zitat an ein Mahnmal in Yad Vashem, der israelischen Holocaust-Gedenkstätte.
Hans Josef Horchem, der später Jurist, Verfassungsschützer und Terrorismusexperte war, macht diese Deportation mit seinen Schilderungen besonders greifbar. Er beschreibt, wie er überlegt, auf Hilde zuzugehen. Er tut es nicht. „Dann war der Moment, in dem ich hätte handeln können, vorbei. Der Zug lief ein. Ich wandte mich ab und schämte mich, dass ich nicht entschlossen genug gewesen war, sie anzusprechen“, zitiert Bürgermeister Dr. Hans-Peter Schick aus dem Buch.
Sie gelten als verschollen
Die Geschichte von Hilde Herz nimmt – wie so oft in dieser Zeit – kein gutes Ende. Hans Josef Horchem wird sie nie mehr wiedersehen. Sie wird kurze Zeit später deportiert und in ein Vernichtungslager gebracht. Genau wie ihre Familie und unzählige andere jüdische Mitmenschen aus der Eifel.
Über die kleine Hilde Herz spricht auch Gisela Freier von der Projektgruppe Forschen-Gedenken-Handeln. „Denn wir werden an die Familie Herz mit Stolpersteinen erinnern, an Hilde, die 13 Jahre alt wurde und als verschollen gilt und an ihre Eltern Max und Erna, die ebenfalls als verschollen gelten“, so die ehemalige Lehrerin der Hauptschule Mechernich.
Drei weitere Stolpersteine werden im nächsten Jahr in Mechernich zu finden sein. „Einer für Andreas Girkens, den Bäckermeister von der Bahnstraße, der für seinen Mut und seine Überzeugung mit dem Leben bezahlte“, so Gisela Freier, die sich sehr freute, dass zur Gedenkveranstaltung auch Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule und des Gymnasiums Am Turmhof erschienen waren. Die weiteren Stolpersteine werden an Dr. Robert David, Hausarzt und Freund von Andreas Girkens, sowie an den Zahnarzt Dr. Ernst David erinnern.
Möglich gemacht wird dies, weil die Stadt Mechernich das Bild von Hilla Richarz erworben hat. Es zeigt einen Viehwaggon auf Gleisen, die mitten im Nirgendwo enden. Deportation, dass ist das Wort, das in diesem Zusammenhang erklärt wird. Der Transport ohne Wiederkehr, Verschleppung. Genau das haben zahlreiche Kinder und Erwachsene erlebt, deren Wege in Vernichtungslagern endeten, sie wurden in Viehwaggons transportiert und schließlich ermordet. „Für die Nazis waren die Juden Tiere“, machte Bürgermeister Dr. Hans-Peter Schick die schreckliche Weltanschauung der damaligen Machthaber deutlich.
„Den Tränen nah“
Das Gemälde von Hilla Richarz ist damit ein Zitat an das Mahnmal, das in Yad Vashem an die Deportation der Juden erinnert. „Man ist fassungslos, schockiert und den Tränen nah“, berichtet Gisela Freier davon, wie sie selbst das Original-Mahnmal bei einem Besuch in Israel wahrgenommen hat: „Jegliche Hoffnung ist sofort erloschen, Ausweglosigkeit, Furcht und Angst haben sich breit gemacht. Hier war klar, dass es kein Entrinnen mehr gab.“
Das Gemälde wird begleitet von einer Tafel mit einem weiteren Textabschnitt von Dr. Hans Josef Horchem. Er wurde Zeuge der letzten Deportation im Kreis Schleiden am 12. Juli 1942. Männer und Frauen über sechzig Jahre, einige von ihnen aus Kommern, waren mit einem Lastwagen zum Mechernicher Bahnhof gebracht worden.
Die Juden durften nur wenig Gepäck mitnehmen. Viele von ihnen hatten mehr dabei als gestattet. Von der Polizei aufgefordert, stellten sie ihre Koffer auf die Gleise des Bahnsteigs 2 ab und kehrten selbst zum ersten zurück, berichtet Horchem. Dann kam eine Lokomotive und zermalmte die Gepäckstücke. Wenige Minuten später lief der Zug ein, der die Juden in zwei Waggons wegbringen sollte. Während sie selbst, unter dem Jubel von Befürwortern der Nazis, mit Juden aus Gemünd, Schleiden, Blumenthal, und Hellenthal abtransportiert wurden, blieb ihr Gepäck, oder das, was davon übrig war, auf dem Bahnsteig zurück.
Deportation als Geschäft
So ging es unzähligen Juden, die von 1941 bis 1945 deportiert wurden. Sie landeten in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslagern. Von dort ging es für die meisten von ihnen in den Tod. Ohne die Mithilfe der deutschen Reichsbahn wären diese Transporte unmöglich gewesen. „Umgerechnet 445 Millionen Euro verdiente die Reichsbahn durch die Deportationen“, betonte Bürgermeister Dr. Hans-Peter Schick: „Es wurde Geld an der Ermordung von Menschen verdient und die, die wissentlich oder unwissentlich daran beteiligt waren, profitierten.“
Er machte in seiner Ansprache deutlich, dass es heute wichtiger denn je sei, sich klar gegen Antisemitismus in Deutschland und der Welt zu positionieren. Vor diesem Hintergrund verurteilte er erneut den schrecklichen Überfall der Hamas. Er erinnerte daran, dass in der Nacht zum 20. Oktober eine Israel-Flagge vor dem Rathaus angezündet wurde, die nur wenige Stunde zuvor aus Solidarität mit den Opfern des Terroranschlags aufgehängt worden war.
„Antisemitismus darf es nicht geben“, sagte Dr. Hans-Peter Schick. Gleichzeitig stellt er jedoch auch heraus, dass Antisemitismus nicht mit Kritik am Staat Israel gleichzusetzen sei. Und auch radikale Handlungen gegen Palästina halte er für falsch. Er fordert ein vernünftiges Miteinander auf Augenhöhe. „Etwas wie der Holocaust darf sich niemals wiederholen“, machte der Mechernicher Bürgermeister unmissverständlich deutlich.
Musikalisch begleitet wurde die Veranstaltung von Günter Hochgürtel – unter anderem mit den Friedensliedern „Sag mir, wo die Blumen sind“ oder „Blowin‘ in the wind“. Die Botschaft ist klar, wie auch Bürgermeister Schick findet: „Manchmal sagt ein Lied mehr als tausend Worte.“ Gerade deshalb gab es viel Applaus – sowohl für den Sänger, als auch für die Reden von Bürgermeister Dr. Hans-Peter Schick und Gisela Freier, die mit ihrer Projektgruppe zu einer Lesung „Lesung gegen das Vergessen“ einlädt.
Lesung gegen das Vergessen
„Am Donnerstag, 9. November, wird Norbert Scheuer aus seinem Roman ‚Winterbienen‘ lesen“, kündigt Rainer Schulz an. Alle seien herzlich eingeladen, ab 19 Uhr ins Pfarrzentrum Kommern, Kirchberg 14, zu kommen. Der Eintritt sei frei, es werden Spenden für eine Gedenktafel gesammelt.
Außerdem lud Franz-Josef Kremer die Anwesenden ein, am Freitag, 10. November, am Gedenkgang der weiterführenden Schulen sowie der evangelischen und katholischen Kirche der Stadt Mechernich teilzunehmen. „Er beginnt um 17 Uhr an der Bahnstraße 49, nahe der Einmündung der Arenbergstraße, wo sich vor dem Krieg die Bäckerei von Andreas Girkens befand“, so Franz-Josef Kremer.
Mit dabei sein werden auch einige der Schülerinnen und Schüler, die jetzt im Rathaus an der Gedenkveranstaltung teilnahmen. Sie alle sind nur wenig älter als Hilde Herz. Die Geschichte um das 13-jährige Mädchen ist ihnen sichtbar nahegegangen. Aber nicht nur ihnen, sondern auch den zahlreichen Vertretern aus Politik und Verwaltung, die sich im Rathaus eingefunden haben, um in einer würdigen Veranstaltung den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu gedenken, die von den Nationalsozialisten per Viehwaggon in den nahezu sicheren Tod transportiert wurden.
pp/Agentur ProfiPress