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Die Kunst als Seelentröster

Der kurdische Flüchtling Kaniwar Avrone aus Syrien lebt seit drei Monaten in der Erstaufnahmeeinrichtung in Kall – Der Künstler verschönert die Unterkunft mit seinen Zeichnungen – Frau und Kinder sind in Istanbul gestrandet

Kall – Die Augen gelten als Fenster zur Seele. Die Augen des Künstlers Kaniwar Avrone lassen diesen Blick aber nur eingeschränkt zu. Zum einen ist da dieser durchdringende Blick, der einen festnageln kann. Der zeigt, dass da ein kritisch denkender Mensch vor einem sitzt. Die Form der Augenbrauen deutet auf eine gewisse Strenge hin. Doch dann blickt man tief in die dunkelbraunen Augen und entdeckt gleichzeitig Güte, Wärme und eine innere Ruhe. Fältchen weisen darauf hin, dass Kaniwar Avrone ein Mann ist, der gerne lacht. Und wenn er das macht, dann sieht er nicht mehr aus wie der 55-jährige Flüchtling, der vor beinahe einem Jahr seine Heimat verlassen hat und seitdem auch seine Frau und seine Kinder nicht mehr gesehen hat. Wenn Kaniwar Avrone lacht, wirkt er um Jahre jünger, auch weil sein herzliches Lachen durchaus kindlich wirkt.

Kaniwar Avrone im Männercafé der Flüchtlingsunterkunft in Kall. Hier hat der 55-Jährige mit Pinsel und Farbe ein zweites Fenster – inklusive gezeichnetem Kabelkanal – geschaffen. Foto: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress
Kaniwar Avrone im Männercafé der Flüchtlingsunterkunft in Kall. Hier hat der 55-Jährige mit Pinsel und Farbe ein zweites Fenster – inklusive gezeichnetem Kabelkanal – geschaffen. Foto: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress

Im Juni 2015 endete das Leben im kurdischen Teil von Syrien, wie er es kannte. Bei einer Protestveranstaltung gegen das Assad-Regime las er einen Brief vor – in kurdischer Sprache. „Rausgeschmissen“ worden sei er dann, erzählt Avrone. Aus dem Land, das er so liebt – und für das er derzeit keinerlei Zukunft sieht. Der einzige Ausweg war die Flucht. Aus guten Grund. „Ich will nicht getötet werden“, sagt der 55-Jährige.

Politisch beobachtet und verfolgt wurde Avrone schon länger. Als Maler, Bildhauer und Dichter widmet er sich den Dingen, die ihn beschäftigen. Das, was er „sieht, denkt und fühlt“ sei Inspiration für seine Kunst – und das ist manchmal auch brisant. So wie auf dem Bild, das die Unruhen in Qamischli im Jahr 2004 zeigt. Syrische Sicherheitskräfte hatten bei einem Trauerzug nach den Krawallen während eines Fußballspiels in die Menschenmenge geschossen. Laut Bildsymbolik stehen die Schützen einem geballten Kurdistan gegenüber. Ein weiteres Werk ist eine Skulptur. Eine Frau umklammert die Weltkugel, will sie schützen vor dem Einfluss der Männer, die mit ihrem Tun die Erde zerstören – so erklärt es zumindest der gelernte Ingenieur, der seit 40 Jahren Künstler ist.

Kaniwar Avrones Flucht begann im September 2015 und führte ihn zunächst in die Türkei und von da über Griechenland und Italien nach Deutschland. Seit Mitte Mai wohnt er in der vom Duisburger Verein ZOF e.V. (Zukunfts-Orientierte Förderung) im Auftrag der Bezirksregierung Köln betriebenen zentralen Flüchtlingsunterkunft in Kall. Dort lebt er mit 200 weiteren Flüchtlingen aus aller Herren Länder zusammen und wartet auf seine Anerkennung als Asylberechtigter.

In dem Gebäude, in dem früher Glas Funke residierte, betreibt der Duisburger Verein ZOF (Zukunfts-Orientierte Förderung) die Erstaufnahmeeinrichtung in Kall. Foto: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress
In dem Gebäude, in dem früher Glas Funke residierte, betreibt der Duisburger Verein ZOF (Zukunfts-Orientierte Förderung) die Erstaufnahmeeinrichtung in Kall. Foto: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress

Zermürbt von den Strapazen der monatelangen Flucht

Einen unzufriedenen Eindruck macht der 55-Jährige, der da in T-Shirt, offenem Hemd, Jeans, weißen Lederschuhen und Mütze auf dem Kopf auf der orangefarbenen Couch im Männercafé der Unterkunft sitzt, nicht. Doch als er gerade in Deutschland angekommen war, war Kaniwar Avrone am Boden zerstört, zermürbt von den Strapazen der monatelangen Flucht und von der Trennung von seinen Liebsten. Die Schleidener Künstlerin Maf Räderscheidt, die sich im Welcome-Projekt der Aktion Mensch engagiert, berichtete beim Begegnungscafé für Flüchtlinge in Kall von einem dramatischen Anruf bei ihr. In der Ersteinrichtung an der Messerschmittstraße sei ein Flüchtling, ein Künstler, angekommen ohne Lebensmut, ob sie helfen könne. Avrone erklärt die Situation heute mit den Sorgen, die er sich gemacht habe: um Syrien, um die Kurden. „Ich mag die schönen Sachen, die schönen Gefühle. Aber was ich in Syrien gesehen habe, war total anders, das war schwer für mich.“

Maf Räderscheidt konnte helfen und baute Avrone wieder auf. Seelentröster war die Kunst, der sich der Kurde aus Syrien verstärkt widmet, seit er in Kall angekommen ist. Im Flur im ersten Stock hat er ein zwei Meter breites und drei Meter hohes Bild auf die Wand gemalt. Ein Adler, das deutsche Wappentier, fliegt mit der Deutschlandfahne im Schnabel über einen Wald und einen Wasserfall. „Das ist die Natur in der Eifel“, übersetzt Shally Nizar, Mitarbeiter in der Unterkunft, die Worte Avrones. Gleichzeitig ist der Adler aber auch eine Reminiszenz an seine Heimat, denn das Tier ist auf dem Wappen der Demokratischen Partei Kurdistans zu finden. Außerdem symbolisiere der Raubvogel Stärke, für Avrone ein wichtiges Merkmal. In Syrien sei sie abhanden gekommen. „Alles kämpft gegen uns“, sagte Avrone. Auch surreale Elemente findet man auf dem Wandbild. So reicht seine Hand aus dem Wasserfall empor, zwei Blumen zwischen den Fingern. „Ich schenke den Besuchern eine Blume und die andere dem deutschen Volk“, sagte Avrone.

„Blumen für die Besucher und für Deutschland“ will Kaniwar Avrone mit dem etwa zwei mal drei Meter großen Wandgemälde im Flur im ersten Stock der Kaller Flüchtlingsunterkunft verteilen. Foto: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress
„Blumen für die Besucher und für Deutschland“ will Kaniwar Avrone mit dem etwa zwei mal drei Meter großen Wandgemälde im Flur im ersten Stock der Kaller Flüchtlingsunterkunft verteilen. Foto: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress

Der 55-Jährige hat in der Unterkunft sogar seinen eigenen Rückzugsort. Eine Ecke in einem Lagerraum durfte er sich einrichten für seine Kunst. Auf einem Kabelkanal hat er die bemalten Leinwände im DIN-A4-Format abgestellt. In einer Ecke befinden sich auf einem Tisch Pinsel und Farben. Eine davon hat er selbst kreiert, „Green Avrone“ nennt er sie und hat dafür leuchtendes Grün mit einem Hauch Türkis versehen. „Sie erinnert mich an Oliven“, sagt der Künstler. 20 Millionen Olivenbäume, so schätzt Avrone, gibt es in Syrien – genauso viele wie Einwohner derzeit. Das Olivenöl sei „das beste östlich des Mittelmeeres“. Die Frage des Reporters, wie ihm denn Oliven in Deutschland schmecken, lächelt er freundlich weg. „Green Avrone“ ist sogar auf dem T-Shirt des 55-Jährigen verewigt, als Farbklecks.

In einem Lagerraum der Flüchtlingsunterkunft hat der Betreiber, der Verein ZOF, dem Künstler einen Rückzugsort zum Malen eingeräumt. Dort entstehen kleinere Bilder auf Leinwand. Foto: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress
In einem Lagerraum der Flüchtlingsunterkunft hat der Betreiber, der Verein ZOF, dem Künstler einen Rückzugsort zum Malen eingeräumt. Dort entstehen kleinere Bilder auf Leinwand. Foto: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress

Anstatt in einem Lagerraum hat er damals, in der Heimat, genauergesagt in Afrin, gleich in einer ganzen Lagerhalle gearbeitet. Er stellte in einer Galerie mitten in Aleppo aus oder in einem Zentrum für Künstler in Homs. Avrone zeigt Fotos von sich und Bürgermeistern, orthodoxen Würdenträgern und anderen Ausstellungsbesuchern. Und er zeigt ein Gebäude in Afrin, das gleich im doppelten Sinne verschüttet ist. Einmal in der Wirklichkeit – und dann die von ihm gemalte Nachbildung, die irgendwo unter einem eingestürzten Haus liegt ist.

In seiner Heimat Syrien hat Kaniwar Avrone in großen Städten ausgestellt. Hier erklärt er dem Bürgermeister von Aleppo seine Werke. Repro: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress
In seiner Heimat Syrien hat Kaniwar Avrone in großen Städten ausgestellt. Hier erklärt er dem Bürgermeister von Aleppo seine Werke. Repro: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress

„Deutschland macht die Kinder stark“

In Kall malt er auch zweckdienlich. Auf einer Wand im Kindergarten des Flüchtlingsheims hat er Bilder gezeichnet – von einem Spiel, das in Nordsyrien populär ist, oder, deutlich abstrakter, von über das Wasser fliegenden Autos und Stühlen. Ein Zimmer weiter, dort wo die Deutsch-Kurse abgehalten werden, hat er das ABC mit Bildern vereinfacht, jedes symbolisiert einen Buchstaben: A steht für Ananas, B für Banane, C für Computer – und ein M für einen Mund, dessen Lippen mit einer Sicherheitsnadel verschlossen sind. „Deutschland macht die Kinder stark“, ist sich der Künstler sicher – und mache dabei keinen Unterschied, welcher Nationalität sie angehören. Denn Grenzen, die sieht der 55-Jährige nicht. „Ich bin doch Künstler!“

Fantasie an der Wand im Flüchtlings-Kindergarten und ein Ausdruck von absoluter Freiheit: Kaniwar Avrone lässt Autos und Sessel über das Meer fliegen. Foto: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress
Fantasie an der Wand im Flüchtlings-Kindergarten und ein Ausdruck von absoluter Freiheit: Kaniwar Avrone lässt Autos und Sessel über das Meer fliegen. Foto: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress

Und doch merkt er gerade am eigenen Leib, was Grenzen bedeuten. Seine Frau und seine 13-jährigen Zwillinge sind ebenfalls auf der Flucht, sie sitzen in Istanbul fest. Wann sich die Familie wiedersieht, steht in den Sternen. Natürlich will er sie nach Deutschland holen. Aber das ist nicht so einfach. Für Flüchtlinge, die nur unter subsidiären Schutz stehen, besteht keine Möglichkeit der Familienzusammenführung. Und außerdem fehlt Avrone das Geld, um der Familie eine sichere Reise zu gewährleisten. Das ist für den Kurden eine Grundvoraussetzung. Den von Schleppern organisierten illegalen und hochgefährlichen Weg in einer Nussschale über das Mittelmeer sollen sie nicht nehmen. „Da habe ich Angst, dass meine Familie ertrinkt.“

Die Situation in Syrien schätzt er schlimm ein. Wenn er über die Zustände in seiner Heimat redet, dann ist der Blick wieder ernst und streng. Er habe schon früh gemerkt, was in Syrien passiert, und konstatiert: „Es gibt keine Gewinner, viele verschiedene Gruppen führen zu vielen Katastrophen.“ Er hat Angst, dass das passiert, was im Libanon passiert ist, dem Nachbarland Syriens, das seit 40 Jahren mit kurzen Unterbrechungen von Bürgerkriegen und Unruhen heimgesucht wird. Helfen, da ist sich Avrone sicher, können nur Europa und die USA.

Schon immer widmete sich Kaniwar Avrone politischen Dingen. Hier hat er die Unruhen in Qamischli aus dem Jahr 2004 künstlerisch dokumentiert. Repro: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress
Schon immer widmete sich Kaniwar Avrone politischen Dingen. Hier hat er die Unruhen in Qamischli aus dem Jahr 2004 künstlerisch dokumentiert. Repro: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress

Für Deutschland hat er nur Dankbarkeit übrig. Mittlerweile geht es ihm auch wieder besser. „Ich bin zufrieden“, sagte er. Natürlich würde er gerne als Maler weiterarbeiten, besonders seit er festgestellt hat, dass die Deutschen einem Künstler ganz anderen Respekt entgegenbringen als in Syrien. Doch die größte Überraschung für ihn in Deutschland: Er lebt jetzt in einem Land, in dem aus seiner Sicht alles funktioniert. Und dann strahlt Kaniwar Avrone übers ganze Gesicht, zeigt seine Krähenfüße und sein herzliches kindliches Lachen.

pp/Agentur ProfiPress