„Verrückt? Na und?!“
Selbst von psychischen Krankheiten Betroffene und Fachleute gehen an die Schulen und nehmen Jugendlichen Angst vor einem Tabuthema – Kreis Euskirchen und der Verein „Irrsinnig menschlich“ stecken dahinter – Auch der Wohn- und Betreuungsverbund Haus Sonne in Bad Münstereifel und Umgebung engagiert sich – Interviews von Manfred Lang mit Pamela Beck, Jörg Zerche, Helmut Reich und Michael Müller
Bad Münstereifel/Kreis Euskirchen – Zugegeben, der Titel klingt provokativ: „Verrückt? Na und?!“ Das Projekt, das zurzeit in Schulen des Kreises Euskirchen durchgeführt wird, hat jedoch honorige Ziele: Es bricht mit der Stigmatisierung seelischer Erkrankungen und sensibilisiert Kinder und Jugendliche, dass es jeden treffen kann. Im Wortsinn: Jeden!
Psychische Erkrankungen beginnen oft im Jugendalter. Was sind die Symptome? Wie ist der Verlauf? Was kann man tun? Es gibt Mittel und Wege mit psychischen Auffälligkeiten und Krankheiten umzugehen und mit ihnen zu leben. Gut zu leben. Ein erster Schritt ist es, sich anderen gegenüber zu öffnen und Hilfe anzunehmen.
Wie das geht und wie man das macht, darüber geben Experten einen Schultag lang Auskunft an verschiedenen Bildungsanstalten im Kreisgebiet. Eine(r) der beiden vor und mit den Schülern agierenden Experten ist selbst Betroffene(r), eine(r) ist Fachmann, in unserem Fall Fachfrau.
Unser Reporter sprach mit den persönlichen Experten Helmut Reich und Michael Müller und der fachlichen Expertin, der Sozialpädagogin Pamela Beck vom Wohn- und Betreuungsverbund Haus Sonne in Bad Münstereifel, sowie Jörg Zerche, dem projektführenden Psychiatriekoordinator beim Kreisgesundheitsamt Euskirchen.
In drei Schritten machen die Experten vor den Klassen auf das Problemfeld psychische Erkrankungen aufmerksam. Erst stellen sich die Experten vor, und zwar, ohne gleich zu verraten, wer Fachreferent und wer Experte zum eigenen Krankheitsbild und seiner Handhabung ist. Es folgen Auflockerungsspiele, in denen sich die Schüler gruppenweise und einzeln dem Themenkreis nähern.
Habt ihr schonmal was von psychischen Erkrankungen gehört? Kann man dem Problem am Ende sogar positive Seiten abgewinnen, wird man sensibler, aufmerksamer, bewertet man Dinge im Leben neu, anders, sieht manches nicht mehr so hochdramatisch an? Helmut Reich: „Eigentlich sollte ich heute Bankdirektor sein, aber durch die Krankheit ist alles anders gekommen. Ich habe dramatische Situationen durchgestanden und lebe nach allem heute insgesamt sehr glücklich.“ Solche Lebensberichte gehen den Schülern nahe.
Was haben Elton John, Julia Roberts und Brittney Spears gemeinsam?
Und dann fordern die Experten Pamela Beck und Helmut Reich die Schüler auf, selbst herauszufinden, was ihnen Kraft gibt, was ihnen gut tut, wo sie Mut herholen. Und dann bekommen sie Fotos prominenter Zeitgenossen vorgelegt:
Was haben Elton John, Julia Roberts, Brittney Spears, Brittany Snow, David Beckham, Catherine Zeta-Jones („R. E. D. 2“), Carrie Fisher („Star Wars“, „Harry und Sally“), Demi Lovato (Camp Rock) und Leonardo DiCaprio gemeinsam? Michael Müller: „Sie haben psychische Krankheiten, wie ich auch“.
Elton John Bulimie, Brittany Snow Depressionen, Dysmorphophobie und Essstörungen, David Beckham leidet unter einer Zwangsstörung, Catherine Zeta-Jones, Demi Lovato und Carrie Fisher unter einer bipolaren Störung, Julia Roberts hat Depressionen und Leonardo DiCaprio eine Zwangsstörung.
Winston S. Churchill war manisch-depressiv, Ludwig II. von Bayern hatte womöglich eine paranoide Schizophrenie, Napoleon Bonaparte eine egozentrische Ichsucht, Theodor Roosevelt war manisch und Ronald Reagan dement. Bela Bartok war schizothymer Ästhetiker, Ludwig van Beethoven, Modeste Mussorgsky und Henri de Toulouse-Lautrec litten unter Alkoholismus, Pablo Picasso war depressiv, Fjodor Dostojewski Epileptiker und Johann Wolfgang von Goethe manisch-depressiv schizoid.
Die Erkenntnis, dass sich Menschen mit psychischen Auffälligkeiten und Problemen gleichsam in bester Nachbarschaft befinden, trägt nicht nur zur Liberalisierung des Denkens bei, sondern auch zur allgemeinen Entspannung im Schultag „Verrückt? Na und?!“
„Die Schüler gehen aus sich raus, hören den Lebensgeschichten und anderen Beschreibungen der Betroffenen gebannt zu, und fragen ihnen schließlich das buchstäbliche Loch in den Bauch“, so Helmut Reich im Interview.
Michael Müller, der vor einer Berufsschulklasse am Euskirchener Thomas-Eßer-Kolleg ein tiefschürfendes Gedicht über seine Befindlichkeit vortrug, bemerkte große Betroffenheit, ja Ergriffenheit unter den Schülern. Jörg Zerche: „Das hat mich besonders beeindruckt, der Mut der Betroffenen, wenn sie ihre eigene Geschichte erzählen. Genauso hoffnungsvoll ist die respektvolle und offene Reaktion der Schülerinnen und Schüler: Man kann dann eine Stecknadel fallen hören.“
Auch die Lehrer waren erstaunt und begeistert zugleich, wie ihre Schutzbefohlenen im dritten Teil, dem Gespräch und der Auseinandersetzung mit dem Problemfeld, reagierten. „Ich habe heute über meine Schüler mehr erfahren als in einem ganzen Schuljahr“, gab die Lehrerin Elke Werge beim bundesweiten Verein „Irrsinnig menschlich“ zu Protokoll, der das Projekt „Verrückt? Na und?!“ initiiert hat und vor Ort gemeinsam mit dem Kreis Euskirchen durchführt.
Seit 30 Jahren Hilfe für seelisch behinderte Menschen
Der Wohn- und Betreuungsverbund Haus Sonne ist eine von mehreren beteiligten sozial-karitativen Organisationen und Schulen, die sich im Kreis Euskirchen an dem Schultag „Verrückt? Na und?!“ aktiv beteiligen. Der von Bürgern um Wolfhard Lorenz gegründete Verein bietet seit 30 Jahren verschiedene Wohn- und Hilfsangebote für seelisch behinderte Menschen in Bad Münstereifel und im Kreis Euskirchen an. „Für die Schulbesuche wird Frau Beck von ihrem Arbeitgeber, dem Wohn- und Betreuungsverbund Haus Sonne, freigestellt. Das ist nicht selbstverständlich“, so Helmut Reich. Der Wohn- und Betreuungsverbunds engagiere sich da weit über die alltägliche Arbeit hinaus.
Die Initiative, an dem Modellprojekt teilzunehmen, kam von Maike Seidenfaden, die im „Haus Sonne“ auch die Aufgaben der stellvertretenden Heimleitung übernimmt. „Im Interesse unserer Bewohner wollen wir uns dafür einsetzen, Vorurteile gegenüber psychisch erkrankten Menschen abzubauen“, sagt sie, und ihre Kollegin Pamela Beck stimmt zu: „Seelische Erkrankungen können jeden treffen, deshalb ist es wichtig, so früh wie möglich für das Thema zu sensibilisieren.“
Jörg Zerche, Psychiatriekoordinator und Koordinator von „Verrückt? Na und?!“ im Kreis Euskirchen, betont: „Eine der größten Hürden, beim Umgang mit psychischer Erkrankung ist die Angst, stigmatisiert zu werden. Das Projekt fördert Respekt und Toleranz bei jungen Menschen. Es tut gut, wenn man merkt, dass man mit seinen Problemen nicht alleine ist. Und es ist wichtig, bei Bedarf auch Hilfe in Anspruch zu nehmen.“
Zerche weiter: „Im Kreis Euskirchen haben wir Glück: Das Projekt wird von vielen Stellen innerhalb der Verwaltung sowie von zahlreichen anderen Kooperationspartnern unterstützt, unter anderem von der Barmer Ersatzkasse als Sponsor. Der besondere Wert des Projektes liegt in der Zusammenarbeit von betroffenen und fachlichen Experten. An den Schulen ist uns der Austausch mit der Schulsozialarbeit sehr wichtig.“
Weitere Schulen im Kreis können sich melden
Für ihre Schultaggestaltung haben sich Pamela Beck, Helmut Reich und Michael Müller bereits eigene Utensilien und Spiele wie einen „Erste-Hilfe-Koffer“ zusammengestellt. Tipps bekamen sie und die anderen persönlichen Referenten und Fachreferenten auch von Cora Spahn vom Leipziger Verein „Irrsinnig menschlich“.
Jörg Zerche resümiert: „Das Projekt befindet sich im Aufbau, die ersten Erfahrungen sind gemacht. Sie waren positiv. Nun braucht es weiter Geduld und Vertrauen. Wir wollen das Projekt in Ruhe aufbauen. Weitere Schulen können sich melden.“ Joerg.zerche@kreis-euskirchen.de
pp/Agentur ProfiPress