Der alte Mann und die Liebe
Großartiger Leseabend mit Martin Walser, Thekla Chabbi und Dr. David Eisermann bei der „Lit.Eifel 2016“ im Jugendstilkraftwerk Heimbach – Ausverkauftes Haus und kokette Fragen zu Ästhetik, Stil und Leidenschaft – „Das führt in kein Bett, das bringt zur Sprache“
Heimbach – Alter Mann, junge Frau, Liebe, Literatur und Tango, Letzterer laut Georg Bernhard Shaw „vertikaler Ausdruck horizontalen Verlangens“, eine derartige Mischung kann nicht nur, sie muss Spannungen erzeugen und Energie freisetzen: Jedenfalls knisterte es ganz schön bei der jüngsten Lit.Eifel-Lesung Montagabend im Jugendstilkraftwerk Heimbach mit Martin Walser und seiner Koautorin Thekla Chabbi.
Martin Walser war nicht nur vom Ort fasziniert, den die „Lit.Eifel 2016“ ihm im Jugendstilkraftwerk Heimbach bescherte: „Das stammt von 1904 und damit aus einer Zeit, in der Ästhetik und Industrie nichts Auseinanderfallendes waren.“ Die mit über 400 Zuhörern ausverkaufte Lesung aus Walsers jüngstem Roman „Ein sterbender Mann“ begeisterte das Publikum – auch wenn die von Thekla Chabbi und Martin Walser ausgewählten Romanpassagen weniger spektakulär waren als das sich daraus entspinnende Interview, das Chabbi und Walser mit WDR-Literaturredakteur Dr. David Eisermann führten.
Darin wurde immer wieder mit der Frage kokettiert, was warum den berühmten Walser und die bislang vor allem als Übersetzerin von Literatur in Erscheinung getretene Nachwuchsautorin in Schaffensberührung brachte. Und die Frage, ob es wieder geschehen werde, dass Thekla Chabbi und Martin Walser gemeinsam ein Buch schreiben.
„Nein“, sagte Walser jedenfalls, und es klang endgültig. „Einmal reicht“, konstatiert der berühmte Autor unter dem Gelächter seines proppenvollen Auditoriums, das ihm nicht ganz zu glauben schien.
Walser verriet: „Es ist in Heidelberg passiert“. Gemeint war die Stadt zu der Zeit, als er mit seinem ungeschriebenen Roman „Ein sterbender Mann“ im übertragenen Sinne schwanger ging, und mit der Sinologin Thekla Chabbi in Gesellschaft ins Gespräch kam und die Rede auf Selbstmord und ein Suizidforum im Internet, mit dem Chabbi sich auskannte.
Im Forum, im Leben und in der Fiktion
So gab ein Wort das andere, ein zunächst anonymer Dialog zwischen „Aster“ und „Schadt“ entspann sich im Forum, dann in der Realität und schließlich in der Fiktion des Romans zum Handlungsstrang.
Chabbi wurde mehr noch auf der anschließenden Lesereise als bei der Entstehung des Romas selbst zu Walsers Koautorin. Eine literarische Liebesgeschichte für sich? David Eisermann: „Ich hatte bei der Lektüre das Gefühl, dass sich der Protagonist Theo Schadt – Walser selbst? – gleich zweimal verliebt – einmal in seinen Gegenpart Carlos Kroll und dann in die junge Frau . . .“
Wie dem auch sei: Es war ein großartiger literarischer Abend, den das junge Nordeifeler Kulturfestival „Lit.Eifel“ da im Jugendstilkraftwerk inszenierte. WDR-Kulturredakteur Dr. David Eisermann, der die „Industriekathedrale“ des RWE wegen der Musikreihe „Spannungen“ aus dem Hörfunk kannte, war ob des realen Eindrucks fast erschlagen.
Eine Kulisse wie bei Jules Verne
„Das ist ja unglaublich, wie bei Jules Verne“, staunte der Bonner Literaturwissenschaftler und Journalist angesichts der Uhren, Armaturen und schweren Maschinen: „Man glaubt, jeden Moment kommt Kapitän Nemo um die Ecke . . .“
Auch Martin Walser, für den man die Heimbacher Turbinen eigens abgestellt hatte, versicherte, er werde schon allein wegen des einmaligen Ambientes jederzeit wieder zur „Lit.Eifel“ kommen: „Ich danke Ihnen, dass Sie mir das ermöglicht haben. Das alles erinnert mich an Friedrich Nietzsche, der 1888 nicht fern von der Entstehung dieses Turbinenhauses geschrieben hat, allein die ästhetische Dimension rechtfertige die Existenz der Welt.“
Später, beim Dinner in der Kunstakademie auf der Heimbacher Burg, scherzte Walser im Gespräch mit der Lit.Eifel-Vorsitzenden, Monschaus Bürgermeisterin Margareta Ritter, und Professor Frank-Günter Zehnder und Helmut Lanio vom Programmbeirat der Lit.Eifel sowie Heimbachs Bürgermeister Peter Cremer: „Stellen Sie sich vor, ich sei voriges Jahr gestorben – dann hätte ich diese wunderbare Industriekirche und das schöne Städtchen Heimbach nie kennengelernt.“
Bürgermeister Peter Cremer war die Ehre zugefallen, den großen Literaturabend mit Martin Walser, Thekla Chabbi und David Eisermann im Jugendstilkraftwerk zu eröffnen. Selbstbewusst ließ der erste Bürger erkennen, wie stolz Heimbach neben seinen vielen anderen landschaftlichen und touristischen Vorzügen auf dieses Kraftwerk ist, das sich mehr und mehr zum überregional bedeutsamen Zentrum Eifeler Kultur entwickele.
Cremer dankte dem Unternehmen RWE Power für seine Gastfreundschaft und pries sich glücklich, den Starschriftsteller Martin Walser und ein volles Lit.Eifel-Auditorium in Heimbach zu Gast zu haben. Im Januar 2017 erscheine sein nächster Roman „Statt etwas“ verriet der bald 90jährige Starschriftsteller: „Meine Leser haben schon alles von mir gelesen – sie bekommen jetzt etwas anderes.“
Ich meine das, wie es da steht
Und Thekla Chabbi, die in Heimbach das von ihr verfasste Kapitel über einen Ausflug nach Algerien vortrug und die gewiss eine talentierte Schriftstellerin und Übersetzerin ist, wurde gefragt, ob sie sich jetzt selbst auch eigenständig an einen Roman wagen werde: „Ich weiß nicht, ob ich mich traue, jemandem zu zeigen, was ich dann schreibe . . .“
Nein, humorlos war der große Literaturabend mit Martin Walser ganz gewiss nicht. So fragte Eisermann: „Sie sagten: Schreiben ist ein Entblößungs-Verbergungsstück, wie haben Sie das gemeint?“ Walser: „So, wie es da steht.“ Romane entwickelten Eigenleben, unabhängig davon, was ist und was die Leute denken, was sein könnte: „Nehmen Sie zum Beispiel den Vorgängerroman »Der liebende Mann«. Das ist ein reiner Liebes-Brief-Roman, das führt in kein Bett, das führt in die Sprache . . .“
Selten hat ein Roman von Martin Walser ein derart grandioses Presseecho gefunden wie sein im Januar veröffentlichtes Werk „Ein sterbender Mann“. Sein neuer Roman über das Altsein, die Liebe und den Verrat ist beeindruckend gegenwärtig, funkelnd von sprachlicher Schönheit und überwältigend durch seine beispiellose emotionale Kraft.
Martin Walser, 1927 in Wasserburg geboren, lebt in Überlingen am Bodensee. Für sein literarisches Werk erhielt er unzählige Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis und 1998 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Außerdem wurde er 1993 mit dem Orden „Pour le Mérite“ ausgezeichnet, eine der höchsten Auszeichnungen in Deutschland für besondere Leistungen in Kunst und Wissenschaft, und 1994 zum „Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres“ ernannt, der wichtigsten kulturellen Auszeichnung in Frankreich.
pp/Agentur ProfiPress