Von Gewalt keine Spur
An der Sankt-Nikolaus-Schule wird wertvolle Arbeit geleistet – Kollegium durchlebte eine schwierige Zeit
Kall – Menschen, die mit behinderten Kindern arbeiten, tun das in der Regel mit großer menschlicher Kompetenz, Fachwissen und einem gehörigen Maß an Idealismus. Wenn diese Pädagogen, die selbst in schwierigsten Situationen jeden Tag ihr Bestes geben, an den Pranger gestellt werden, ist das mehr als bitter.
Diese Erfahrung mussten die Schulleiterin, zwei Lehrer und drei Schulbegleiter der Sankt-Nikolaus-Schule in Kall machen. Der Großvater einer geistig behinderten Schülerin sowie die Therapeutin des Mädchens haben gegen die sechs Mitarbeiter der Förderschule Anzeige erstattet, nachdem das Mädchen in einer sogenannten „Alarmsituation“ wegen wiederholtem fremdgefährdenden Verhalten zu Boden gebracht worden war. Bei diesem Vorgehen handelt es sich um den letzten Handlungsschritt eines von Experten entwickelten Antigewalt- und Sicherheitssystems (AGS).
Was nach den Schilderungen des Großvaters in einem Pressebericht auf Unbeteiligte wie ein liebloser Übergriff wirkte, war tatsächlich das behutsame und sichere Zu-Boden-Bringen der Jugendlichen, um zu verhindern, dass sie sich selbst oder andere verletzt. Und zwar, nachdem alle anderen Versuche, das Mädchen zu beruhigen, fehlgeschlagen waren.
„Wir fixieren nicht, wir setzen uns nicht auf die Kinder und Jugendlichen. Die Schüler haben immer die Möglichkeit, aus der Situation herauszukommen“, sagt Andrea Luxenburger-Schlösser, seit 2008 Schulleiterin der Sankt-Nikolaus-Schule, mit Nachdruck. Gerade das AGS ermöglichte es mehreren Kollegen gemeinsam, sachte mit einem außer sich geratenen Schüler umzugehen.
Was sie und ihr Team mit- und durchgemacht haben, nachdem der Großvater des Mädchens seine Sicht der Dinge in der Öffentlichkeit geschildert hat und zwei Leserbriefe mit ebenso einseitiger Sichtweise folgten, mündete in eine große Verunsicherung. Bisher Selbstverständliches wurde in Frage gestellt, jedes Handeln in Konfliktsituationen auf mögliche negative Folgen hinterfragt.
Der Schulfrieden wurde ein zweites Mal massiv gestört, als sich im Herbst 2016 die Mitarbeiterin eines privaten Fernsehsenders als angebliche Praktikantin einschlich, den Alltag mit den teils schwerstbehinderten Kindern beobachtete und möglicherweise mit ihrer heimlichen Recherche den Schutzbereich der Kinder verletzte.
Gleiches ereignete sich an der St.-Nikolaus-Schule in Erding. Den Kollegen in Bayern erging es wie dem Schulteam in der Eifel: Die Filmaufnahmen mit versteckter Kamera sorgten nach dem Auffliegen für Unruhe und große Verunsicherung in der Schule. Andrea Luxenburger-Schlösser und ihre Kolleginnen vom Schulleitungsteam, Johanna Kreysern und Kathrin Kuhl, beschreiben die Gefühle, die das gesamte Team seitdem durchlebt hat: „Wut, Enttäuschung, Angst.“
Solidarität zeigten die Kollegen anderer Schulen. Die Elternschaft unterstrich in einem Brief an die Bezirksregierung ihr Vertrauen in die Sankt-Nikolaus-Schule. Balsam war auch die Anteilnahme des Kaller Bürgermeisters Herbert Radermacher, betont Andrea Luxenburger-Schlösser.
Der hohe kollegiale Zusammenhalt und die gegenseitige Unterstützung gab dem Team die Kraft, die Verunsicherung zu überwinden und sich wieder auf das zu besinnen, wofür der Name der Nikolausschule steht. „Wir arbeiten an den Fähigkeiten und Kompetenzen aller Schüler“, betont Johanna Kreysern und nennt als Beispiel einen Schüler im Wachkoma, der sich mittels Augensteuerung und Computer mitteilen kann.
Nicht-sprechende oder schwer verständlich sprechende Schüler werden mit modernen iPad, Tasten, Talker und Gebärden in ihrer Kommunikation gefördert. „Sie erleben sich selbst als ‚Bestimmer‘ und lösen Reaktionen in ihrer Umwelt aus“, beschreibt Kreysern eine für die Kinder wichtige Erfahrung. Für die schwerstbehinderten Schüler gibt es an der Sankt-Nikolaus-Schule ein besonderes Förderkonzept, in dessen Rahmen unter anderem der sogenannte Snoezelraum zum Zirkus wird mit besonderem Licht, weichen Materialien, Bewegung und Musik. Für die Psychomotorik und das Bewegungskonzept „Move“ wird die Turnhalle in eine Bewegungslandschaft verwandelt. So lernen motorisch beeinträchtigte Schüler beispielsweise, Treppen im Wechselschritt statt im Beistellschritt zu steigen, zu sitzen oder ohne Hilfe vom Boden aufzustehen.
Der Schock war groß, die Emotionen schlugen hohe Wellen, doch mittlerweile sind sich die Schulleiterin und ihre Mitarbeiter der wertvollen Arbeit, die sie leisten, wieder bewusst. „Wir sind richtig gut“, sagt Andrea Luxenburger-Schlösser aus vollem Herzen.
pp/Agentur ProfiPress