Der Großvater ein KZ-Kommandeur, der Vater Schwarzafrikaner
Jennifer Teege, Enkelin des „Schlächters von Plaszow“ Amon Göth, liest am 10. November, um 19.30 Uhr, im Nettersheimer Naturzentrum
Kall/Nettersheim – Eine ganz besondere Lesung bereiten fünf Studierende der Wirtschaftsschule für Tourismus am Berufskolleg Kall als Projektarbeit vor. Am Montag, 10. November, ab 19.30 Uhr, liest Jennifer Teege aus ihrem Buch „Amon – Mein Großvater hätte mich erschossen“ im Nettersheimer Naturzentrum Eifel. Der Eintritt ist frei.
Das Buch, aus dem die in Hamburg lebende Autorin in der Eifel liest, ist ein Buch über ihre eigene Lebensgeschichte, die eine besondere Wendung nimmt, als sie 38 Jahre alt ist.
Da erst erfährt Teege, dass der gefürchtete KZ-Kommandeur Amon Göth ihr Großvater ist. Göth, genannt „Schlächter von Plaszow“, erschoss im Vernichtungslager Inhaftierte vom Balkon aus – wie im Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ zu sehen. „Ich habe mich gefühlt, als würde ich ertrinken“, beschreibt sie rückblickend diesen Moment.
Nur durch Zufall kam sie 2008 hinter das bis dahin verborgene Familiengeheimnis. Damals schlenderte Jennifer Teege durch eine Hamburger Bibliothek und zog zufällig ein Buch aus dem Regal, das ihr Interesse weckte. Für Teege sollte dies ein schicksalhafter Tag werden.
Zeitlebens war sie bis zu diesem Moment auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln gewesen. Die fehlten: Ihr Vater war ein Nigerianer, den sie kaum kennt. Ihre Mutter hatte sie mit vier Wochen im Säuglingsheim abgegeben. Sie wuchs bei Pflegeltern auf. Mit sieben Jahren wurde sie adoptiert.
Lähmende Depressionen bestimmten über viele Jahre ihren Alltag. Die fehlende Familienhistorie ließ ihr keine Ruhe, entzieht ihr die Basis fürs unbeschwerte Leben. Und kein Ende in Sicht: „Ich habe mich gefühlt, als ob ich in einem Haus lebe, und dieses Haus hat viele Türen, die mir verschlossen sind. Trotz vieler Therapien bin ich nie an ein Ziel, hinter die Türen gekommen.“
Das änderte sich als sie in dem Buch Fotos sowie Geburtsdaten der Großmutter und Mutter entdeckte, die sie aus einer Akte des Jugendamtes kannte. Da fügte sich plötzlich alles zusammen. „Das ist meine Mutter, die auf dem Cover abgebildet ist“, kam die Erkenntnis. Daneben war Göth im Großformat zu sehen. Ihr wurde klar: „Es geht um meine Familiengeschichte.“ Die heute 44-jährige Werbetexterin erfährt endlich mehr über sich, über ihre Mutter, aber eben auch, dass der NS-Scherge Amon Göth ihr Großvater ist. Sie habe nach diesem Tag in der Bibliothek vor dem Spiegel gestanden und ihre Gesichtszüge mit seinen auf Bildern verglichen, erinnert sie sich.
Sie sei zunächst in ein tiefes Loch gefallen, erzählt sie: „Die Aufarbeitung und der Umgang damit waren schwierig. Aber mit dem Wissen ist der Depression die Grundlage entzogen worden. Seit ich meine Familiengeschichte kenne, bin ich erstmals frei von Depressionen.“ Sie ist überzeugt, dass ein verborgenes Familiengeheimnis dieser Tragweite Einfluss auf das Leben und die Persönlichkeit eines Menschen habe: „Nur weil man es nicht sieht, heißt es nicht, dass es nicht wirkt. Es besitzt eine toxische Kraft.“
Fünf Jahre nach der Entdeckung hat sie 2013 mit Nikola Sellmair ein Buch veröffentlicht. Ihr Schicksal sei kein einzelnes, so Teege. Nicht wenige Kinder der Kriegsgeneration hätten mit einer ungewissen Herkunft zu kämpfen. Ihr Buch habe sie bewusst nach ihrem Großvater benannt, berichtet sie: „Amon ist der rote Faden, der sich durch das Buch zieht. Er ist derjenige, der das Unglück ausgelöst hat – unser familiäres Unglück, ganz zu schweigen von seinen Gräueltaten. Selbst wenn ich bei meiner Familie bleibe, hat er unser aller Leben geprägt. Ich hatte oft das Gefühl, das er wie ein Marionettenspieler noch immer die Fäden zieht. Er ist nicht mehr da, aber man kann ihn deshalb nicht ignorieren.“
Elena Becker, Maria Camacho Espinosa, Eva Klinkhammer, Jennifer Schilk und Francesco Toscano sind die fünf Studierenden der Wirtschaftsfachschule für Tourismus am Berufskolleg Kall, die die Lesung vorbereiten. Die Geschichte der heute 44-Jährigen habe sie berührt, so Maria Camacho Espinosa. Wir alle haben das Buch verschlungen, erzählt sie: „Aber immer wieder gab es Momente, in denen man innehalten musste.“
Seit Wochen kümmert sich die Projektgruppe emsig um die Vorbereitungen der Veranstaltung, haben aber ebenso auch die Durchführung und Nachbereitung im Blick. Sie freuen sich auf „ihre“ Lesung. „Weil wir selber neugierig sind, Frau Teege kennenzulernen und mehr von ihrer Geschichte zu erfahren“, sagt Francesco Toscano.
Es sei ein großes Projekt, so WFT-Bildungsleiter Willibert Witten: „Unsere Studierenden bekommen zum Anfang ihres zweiten Ausbildungsjahres die Chance, regionale Tourismusprojekte in der Praxis zu verwirklichen. Derzeit absolvieren 23 Führungskräfte von morgen den staatlich geprüften Betriebswirt in der Fachrichtung Tourismus am Berufskolleg Eifel.“
Im Auftrag der Landeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit dem Verband der Bibliotheken des Landes NRW und dem Literaturhaus Nettersheim haben sich die fünf Studierenden das „Konzept zu einer literarischen Kulturveranstaltung“ ausgesucht und Jennifer Teege als Wunschkandidatin bekommen. Alexander Krause, der Moderator der Gruppe, fügt hinzu: „Wir wollen für das Thema sensibilisieren und soweit für die Lesung begeistern, dass hoffentlich viele kommen.“
Am Abend der Lesung wird auch eine Ausstellung von „JudiT.H“, dem Hellenthaler Arbeitskreis Geschichte der Juden im Tal, zu sehen sein.
pp/Agentur ProfiPress